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Der Traum von einer besseren Welt, der Wunsch nach sozialer Harmonie und sorgenfreiem Leben, ja die Sehnsucht nach Glück – all das sind gewiss universale Phänomene der Menschheit. Seit sie über ihre eigene Existenz reflektiert, seit sie ein Geschichtsbewusstsein besitzt, seitdem hat auch der gedankliche Gegenentwurf zur moralischen, materiellen und sozialen Mangelhaftigkeit der gesellschaftlichen Ordnung eine Aktualität. Denn zu allen Zeiten und an allen Orten hat der bedürftige und leidende Mensch mit der Sprache, der Fantasie und vor allem mit Hilfe der Vernunft seine bedrängte Gegenwart überschritten und sich ein besseres Dasein erdacht und erträumt. Metaphern dieser Sehnsucht finden sich über die gesamte Entwicklungsgeschichte: sei es als friedliches Himmelreich auf Erden, sei es als goldenes Zeitalter, sei es als Paradies, Schlaraffenland oder Modell eines idealen Staates: all diese Fiktionen eint die Vorstellung von einer besseren Welt, in der Glück herrscht und Wirklichkeit geworden ist.

Doch die Frage, die im Hintergrund steht, lautet: Welche Wege führen dorthin? Gelingt es dem Menschen gar, eine solche heile Welt selbst zu gestalten und herzustellen? Das Mittelalter war diesbezüglich zurückhaltend: Heil versprachen nur Gott und die Religion. Ganz anders die Renaissance. Das frisch erwachte Bewusstsein des Menschen, selbst Gesellschaft, ja selbst die Natur gestalten zu können und damit die Geschichte zum Besseren zu wenden, war das Kennzeichen einer ganzen Epoche, die von Euphorie, Aufbruchsstimmung und dem Mut gekennzeichnet war, Neues zu wagen. Warum also die Welt nicht besser machen als sie von Hause aus ist? Warum nicht an die Stelle der Schöpfung eine eigene, menschengemachte Schöpfung treten lassen? Schließlich versteht sich der Mensch der Renaissance durchaus als „secundus deus“, als zweiter Gott, der aus sich und auch aus der Natur alles machen zu kann. Wichtigstes Mittel hierfür ist ihm die Vernunft. Und wichtigstes Ziel das Glück der Menschen, auf das alle von ihm erst noch zu erschaffenden Institutionen hingeordnet sein müssen. Gerade in der Fähigkeit, aus sich alles machen zu können und sein Glück selbst in die Hand zu nehmen, gerade darin besteht, folgt man Pico della Mirandola in seiner programmatischen Rede „De dignitate hominis“ (Von der Würde des Menschen), veröffentlicht 1496, ja letztlich sein gottgewollter Auftrag als Schöpfer seiner eigenen Welt. Dem vernünftigen Schöpfungshandeln des Menschen muss freilich ein Entwurf der Vernunft vorausgehen, ein durch und durch vernünftiger Plan, der die räumlichen, institutionellen, sozialen und moralischen Bedingungen des Glücks entwirft und dem es dann hinterherzustreben gilt, ein Entwurf, der das Intendierte als Motivans vorausnimmt und erahnen lässt – und der es erlaubt, auch aus der Kenntnis des dem Menschen Eigentümlichen dessen Realisationschancen abzuwägen.

 Thomas Morus war ein glühender Verehrer des Pico della Mirandola. Und man könnte geneigt sein, sein Werk „Utopia“ aus diesem Habitus des Vernunftoptimismus zu deuten. Auch der Untertitel des Werkes könnte in diesem Sinne interpretiert werden: „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ – „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“. Das Werk erschien im Jahr 1516 auf Drängen, Empfehlung und Vermittlung seines Freundes Erasmus von Rotterdam und rollte am 16. Dezember 1516 erstmalig durch die Druckerpresse des damals in Löwen niedergelassenen Buchdruckers Dirk Martens. Eine zweite Ausgabe, redigiert von Erasmus von Rotterdam, erschien bereits 1518 in Basel. Danach erlebte die Schrift in kurzer Abfolge Auflage um Auflage. Sie traf offensichtlich den Nerv der Zeit. Ja, es wird im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte zum meistgedruckten Buch nach der Bibel. Seine Bekanntheit machte es gar zum Namensgeber eines neuen literarischen Genres der Sozialkritik. Die erste deutsche Übersetzung erscheint bereits 1524.[1]

1. Der Weg nach Utopia – das Werk

Der Inhalt der Schrift ist schnell erzählt und leicht zu verstehen, die Deutung freilich wird – wie sie ebenso schnell merken werden – etwas Zeit und gedanklichen Aufwand in Anspruch nehmen:

Rein formal handelt es sich bei der Utopia um einen literarischen Dialog, dessen Thema der beste Staat ist. Ort der ausgesprochen dürftigen Handlung ist Antwerpen, die wichtigste Handelsmetropole Europas im frühen 16. Jahrhundert. Inhaltlich setzt die Erzählung mit der Begegnung dreier Figuren an: Nach einem Gottesdienstbesuch trifft der Ich-Erzähler Thomas Morus den befreundeten Humanisten Petrus Aegidius (damals Stadtschreiber von Antwerpen), den er in ein Gespräch mit dem fiktiven Weltenbummler Raphael Hythlodaeus verwickelt sieht. Die Gesprächspartner begeben sich von der Kirche in den Garten von Morus’ Antwerpener Domizil, gehen mittags Essen und kehren nachmittags in den Garten zurück. Das Gespräch endet abermals im Speisezimmer mit dem Wunsch auf baldige Fortsetzung des Dialogs.

Damit ist im Grunde alles zum formalen Geschehen in der Utopia gesagt: Nicht die Handlung, sondern die im Gespräch behandelte Gedankenwelt kennzeichnet die Schrift.

Das Werk ist nach dieser einleitenden Erzählung des Verfassers in zwei Bücher unterteilt. In einer über weite Strecken monologisierenden Schilderung berichtet Raphael Hythlodaeus im zweiten Buch des Werkes von der fernen und glücklichen Insel Utopia. Zunächst geht dem Bericht aber in einem ersten Buch eine Erörterung der bestehenden Missstände im zeitgenössischen England und Europa voraus, die nur gelegentlich durch historische Rückblenden und wenige Projektionen erweitert wird. In diesem ersten Buch attackiert Raphael die ungerechten ökonomischen Verhältnisse mit aller erdenklichen Schärfe und findet bei seinen Gesprächspartnern weitgehend Zustimmung.

Allerdings stößt Raphael bei den Humanisten Peter Aegidius und Thomas Morus auf Unverständnis, weil er sich strikt weigert, einem Fürsten als Berater zu dienen. Das eigentliche Kernproblem des ersten Buches ist also die Frage, ob der weise Philosoph in den aktiven Dienst eines Fürsten treten soll oder nicht. Die beiden Grundpositionen stehen sich unversöhnlich gegenüber: In die Figur des Raphael ist die völlige Losgelöstheit von allen sozialen und politischen Bindungen projiziert, während die Humanisten Morus und Gilles als Juristen und Politiker den täglichen Erfordernissen und Zugeständnissen Tribut zollen, dafür aber immerhin die Möglichkeit besitzen, Einfluss auf die Gestaltung der Politik und Gesellschaft zu nehmen. Die Streitfrage um das Für und Wider von vita activa und vita contemplativa kehrt in der Utopia nicht weniger als dreimal wieder – gleichsam wie eine Grundmelodie. Soll man die politischen Verhältnisse aktiv mitgestalten – und sich dabei die Hände schmutzig machen, oder sich – wie Raphael Hythlodaeus – auf den Standpunkt kontemplativer Vernunft zurückziehen, die primär an der Reinheit ihres Denkens orientiert bleibt und um dieser Reinheit willen sich dem Wirklichkeitstest des von ihr Erdachten gar nicht aussetzen will.

Die Streitfrage nach dem Vorzug von vita activa oder vita contemplativa war für die Humanisten der damaligen Zeit nichts Neues, die Entscheidung betraf ein unmittelbares Problem. Die Humanisten formten ein neues Bild, eine neue Stellung des Menschen, die sich deutlich von der hierarchischen Abstufung des Mittelalters unterschied; sie bemühten sich um eine neue, wesensgemäße Bestimmung von Herrschaft, Bildung, Gesetz, Eigentum und Strafe; und sie versuchten nicht nur Gehör und Einfluss für ihre Ideen bei den Trägern der politischen Macht zu finden, sondern traten zumeist selbst in den Dienst der Fürsten, um sich als Sekretäre, Gesandte oder gar Kanzler aktiv für die Umsetzung ihrer Forderungen einzusetzen. Die wenigsten entschieden sich für einen radikalen Weg, also den völligen Rückzug aus dem öffentlichen Leben oder gar den Versuch einer revolutionären Beseitigung der tradierten Ordnung; vielmehr wählten sie den Kompromiss und strebten eine allmähliche Besserung der Verhältnisse an. Ihr Fokus lag insbesondere auf der Belehrung, Bildung und Er-ziehung der aktuellen oder künftigen Herrschergestalten. Von den Humanisten wurde ja ein aktiver Menschentypus gefordert, dem sie auch selbst vorbildhaft zu entsprechen versuchten. Die praktische Zielsetzung, das Hineinwirken in die politische Praxis, war ein allgemeines humanistisches Anliegen. Mit dem Lob der vita contemplativa, die ein Lob reiner Vernunftexistenz ist, zeigt Raphael, dass er dem Idealbild des Humanisten gerade nicht zu entsprechen bereit ist.

Auch Thomas Morus hat sich die Entscheidung nicht annähernd leicht gemacht. Seine Biografie und sein Werk bieten für das Schwanken zwischen vita activa und vita contemplativa zahlreiche Illustrationen. Sein Leben ist ein beständiges Hin- und Her zwischen den Polen der rein geistigen Existenz eines christlichen Gelehrten und der aktiv-politischen Existenz als Staatsmann. Die zentrale Stellung der Beraterthematik im ersten Buch der Utopia nährt deshalb durchaus den Verdacht, dass hier Morus, argumentativ und kontrovers, einen Grundkonflikt seines eigenen Lebens ausgetragen hat, zumal zu einer Zeit, da ihn diese Entscheidung persönlich vielleicht am nachhaltigsten herausgefordert hat. Die gegebenen Verhältnisse machten es Morus zumindest nicht leicht, sich vollends dem Staatsdienst zu widmen.

Für Raphael als den Verteidiger der vita contemplativa steht freilich jeglicher Kompromiss mit der herrschenden Ordnung völlig außer Frage. Als Reaktion präsentiert er seinen Dialogpartnern – in lockerer Folge gegliedert – die Einrichtungen und Sitten auf der entlegenen Insel Utopia. Er erzählt von deren Geografie, der funktionalen Städte- und Landesplanung der Utopier, dem politischen und rechtlichen System, ihrer sinnenfrohen Ethik, dem ausgeprägten Erziehungs- und Bildungswesen, der vernunftbegründeten Religion sowie der listenreichen Außen- und Kriegspolitik. Die gesamte, ausgesprochen kollektivistische Ordnung ist dabei auf die ökonomische Basis des Gemeineigentums gestellt und wird durchgängig mit der Vernünftigkeit und Nützlichkeit aller Einrichtungen begründet. Die Insel Utopia ist – so könnte man sagen – der kontemplativ ersonnene, als real vorgestellte und ausgemalte Vernunftstaat. Er ist das Produkt reinster Vernunftüberlegungen, die keine Kompromisse einzugehen bereit sind. Im Medium der Insel Utopia singt Raphael, so könnte man sagen, das Lob der reinen Vernünftigkeit, deren Ertrag ein Gemeinwesen ist, das sich sehen lassen kann.

Es herrscht Toleranz in vielen Belangen, v.a. der Religion. Der Staat ist offen für alle, die sich dieser strengen Ordnung unterordnen. Denn dann muss niemand leiden, weil allen das gleiche gebührt. Wissenschaft und Literatur werden gefördert. Zwar muss jeder arbeiten, dafür aber jeder weniger. Kranke werden ausführlich gepflegt und Sterbende in den Tod geleitet. Alle sind versorgt. Es gibt kaum feste Gesetze, auch keine Todesstrafe, und vor allem kaum Advokaten. Denn durch die Gleichheit aller, durch den Wegfall des Privateigentums an Boden und Produktionsmitteln gibt es keinen Anlass mehr für Verbrechen.

Uns heutigen erscheint die Bilanz einer reinen Vernunftordnung des Gemeinwesens freilich durchwachsen: Geschildert wird eine stark patriarchalisch und streng hierarchisch geprägte Gesellschaft, deren Individuen in Aussehen wie Denken gleichgeschaltet und uniformiert sind; eines Gemeinwesens, in der der Einsatz der Sklaverei nur konsequent, weil vernünftig und nützlich erscheint, in der alle Bewegungen und Taten der Individuen überwacht sind, in der der Alltag streng reguliert und auf Effizienz hin getaktet ist; einer Gesellschaft, die listige Kriege bis zur Ausrottung anderer Völker führt sowie die Familien der Krieger mit an die Front schickt, damit diese besser und bis zum bitteren Ende kämpfen. Müßiggang und freie Erholung sind verboten. Ein am Glück aller orientiertes Gemeinwesen würden wir uns Heutige jedenfalls anders vorstellen und ebenso ist zu vermuten, dass auch die Humanisten mit einem Gemeinwesen dieses Zuschnittes nicht glücklich gewesen wären.

Die Vernunftordnung Utopias, die real gewordene Vernunft, scheint in den Augen Raphael dennoch perfekt und das Glück der Utopier fast zwangsläufig. Denn all diese individuellen und sozialen Einschränkungen werden von Raphael bestens gerechtfertigt: denn sie sind durch und durch vernünftig, weil für alle nützlich. Gegen Ende der Schilderung hält Raphael daher ein flammendes Plädoyer für die Institutionen der Utopier.

Doch der kluge Morus gibt sich als Realpolitiker skeptisch, was die Möglichkeit der Umsetzung auch in Europa betrifft. Und mit dieser Skepsis endet die Erzählung des Werkes. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, durch eigenes Nachdenken zu prüfen, ob der utopische Inselstaat tatsächlich der bester aller möglichen Staaten ist, und es bleibt ihm zu prüfen, ob das mit Utopia verheißene Glück tatsächlich Wirklichkeit werden könnte, sofern man nur der Spur, die die Vernunft gelegt hat, zu folgen bereit ist.

2. Entstehung und Absicht: Erprobung der Leistungsfähigkeit der Vernunft

Für den Interpreten geben die Ungereimtheiten der Schrift freilich viele Rätsel auf. Ist die Utopia vielleicht nur eine heitere Satire, oder doch eine Eutopie, die Schilderung eines glücklichen, durch- und durch durchrationalisierten, dabei heidnischen, gar sozialistischen Gemeinwesens; oder nicht doch einfach eine Dystopie, eine Unglückserzählung?

Zu übersehen ist nicht, dass sich im komplizierten Titel bereits entscheidende Hinweise für das Verständnis des Werkes finden: Es geht, darf man dem Titel glauben, um eine Erörterung der Frage nach dem ‚besten Staat‘ – einer der politischen Ideengeschichte spätestens seit Platon nicht unbekannten Fragestellung. Zudem ist das Büchlein „nützlich und heilsam“, und ebenso ist es „kurzweilig und vergnüglich“. Damit sind im Grunde alle Hauptstränge der so pluralistisch ausfallenden Lesarten angesprochen: die Schrift hat der Charakter einer politisch-philosophischen, einer praktisch-pädagogischen sowie einer heiter-ironischen Erzählung. Und es ist zu vermuten, dass jede Interpretation, die nur eine Seile dieses so absichtsvoll verschlüsselten Werkes zur Kenntnis nimmt oder überbewertet, zwangsläufig scheitern muss.

Neben dem Titel hilft für die Bestimmung der Intention des Verfassers aber auch ein Blick in den Entstehungskontext der Schrift weiter. Sie zeigt vor allem eins: die Utopia des Morus ist ein typisch humanistisches Gedankenexperiment!

Das wertvollste zeitgenössische Dokument ist in diesem Zusammenhang der Brief des Erasmus von Rotterdam an Ulrich von Hutten aus dem Jahr 1519. Erasmus berichtet dort, Morus habe das zweite Buch der Utopia (also die Schilderung der Insel) zunächst in einer Zeit der Muße verfasst und später bei Gelegenheit das erste Buch aus dem Stegreif hinzugefügt. Die angesprochene Mußezeit bezieht sich auf Morus’ Aufenthalt in Flandern von Mai bis Oktober 1515 als er im königlichen Auftrag zu Verhandlungen unterwegs war. Als die gegnerische Delegation vorübergehend abreiste, besuchte Morus nicht nur Peter Gilles in Antwerpen, sondern schrieb auch die Urfassung, also den Bericht über die entlegene Insel Utopia, also das spätere zweite Buch der Utopia.

Als unmittelbarer Anlass hierzu ist ein unter Humanisten weit verbreitetes Spiel zu vermuten, eine Übung, wie sie sich ganz analog in der seinerzeit beliebten Fürstenspiegelliteratur findet. Dieses Spiel begann meist mit der Frage: “Was ist der/die/das beste (…)„ – und endete im Versuch, Regeln und normative Kataloge aufzustellen über die beste Erziehung, den besten Höfling, den besten Fürsten, den besten Familienvater und in Morus’ Variante eben: die beste und vernünftigste Ordnung staatlicher Gemeinschaft. In diesem Sinne könnte man als grundlegende Frage, auf die die Utopia eine Antwort gibt, etwa formulieren: Was vermag die Vernunft, ganz auf sich gestellt, um ein geordnetes, dem Glück der Bürger förderliches Gemeinwesen zu entwerfen? Eine solche intellektuelle Übung hat Morus offenbar im Ausland mit einigen Humanisten durchgespielt und dabei den Gedanken gefasst, das Gespräch niederzuschreiben – keineswegs jedoch die gesamte, heute bekannte Utopia, sondern nur die Schilderung der glücklichen Insel, also das zweite Buch, sowie die thematisch dazugehörige Einleitung zum ersten Buch. Der Spielcharakter der Entstehungssituation spiegelt sich deshalb auch in der Form des Utopia wider, schließlich handelt es sich – wie erwähnt – nicht um eine systematische Argumentation oder Abhandlung, sondern um eine eher frei gestaltete Aneinanderreihung bestimmter Aspekte der „besten“ und „vernünftigsten“ Ordnung.

Nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden sah sich Morus dann, vor allem durch das dringende Ersuchen, seine Dienste künftig allein dem König zu widmen, mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich intensiv mit den politischen Realitäten seiner Zeit auseinanderzusetzen. Der erste Teil der Utopia ist deshalb insbesondere das Ergebnis von Morus’ Reflexion über die Problematik, wie man politische Verantwortung in einer korrupten Wirklichkeit übernehmen kann, ohne dabei von moralischen Prinzipien eines christlichen Humanismus abzufallen.

Die Kompositionsfolge der Utopia und der biografische Hintergrund liefern für Morus’ Wirkungsabsicht nun insofern wichtige Hinweise, als die Ur-Utopia für sich genommen bereits zum Zeitpunkt seiner Rückkehr nach England ein in sich geschlossenes, publikationsreifes Werk war. Morus wollte es aber ganz offensichtlich nicht eigenständig veröffentlichen.

Was ist dem zu entnehmen?

Zumindest so viel, dass jene Interpreten, die die massive Sozialkritik im ersten Buch weitgehend unberücksichtigt lassen oder seine Bedeutung herunterspielen, wichtige Fragen nicht beantworten: Weshalb sollte sich Morus in Zeiten äußerster Beanspruchung die Zeit vom Schlaf abringen’, wenn er dem Verfassen des ersten Buches keine gewichtige Absicht zugedacht hätte? Weshalb sollte Morus dem an sich kompletten Utopie-Bericht eine vehemente Kritik an den zeitgenössischen Missständen voranstellen, wenn seine Intention in der Veröffentlichung eines humanistischen Scherzes lag? Und weshalb hätte Morus beide Teile nachträglich durch die Fragen verbinden sollen, wie ein Philosoph Berater des Königs sein könne und ob er dadurch zwangsläufig selbst korrumpiert werde, wenn diese Erörterung nicht ein existenzielles Anliegen widerspiegeln würde, zumal es Morus’ eigener Lebenssituation entsprach? Hätte Morus lediglich einen hundertseitigen Witz erzählen wollen, dann hatte er die Mühen nicht auf sich nehmen zu brauchen. Der eher spielerische Teil lag bereits vor. Neben all den heiteren Wesenszügen kann der Utopia eine ernsthaft-didaktische Intention nicht schlechthin abgesprochen werden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Feststellung, dass das erste Buch der Utopia wesentlich ernsthafter gemeint ist als das zweite: Über viele Stellen des zweiten Teiles kann man lachen, man kann es ebenso bei der Vorrede des Morus. Doch über die Beschreibung der sozialen Missstände und die offensichtlichen Ungerechtigkeiten im zeitgenössischen Europa wird man kaum noch unbeschwert lachen können.

Mit dem Vorziehen des später geschriebenen ersten Buches entsteht der Eindruck, und diese Wirkung ist von Morus zweifellos gewollt, dass der Anlass zur spielerischen Reflexion über das ideale Gemeinwesen die kritische Betrachtung der europäischen Zustände gewesen sei. Wie in einem mit rein rationalen Mitteln konstruierten Spiegelbild erscheinen die zeitgenössischen Verhältnisse dadurch in grellerem Licht. Die Konstellation von erstem und zweitem Buch schafft ein gewolltes Spannungspotenzial, das nicht nur die Eindringlichkeit der Darstellung steigert, sondern damit auch einen Appell an Morus’ Leser verbindet, sie mögen sich der historischen Realitäten bewusst werden und bessere Möglichkeiten auf            Grundlage der Vernunft diskutieren. Die Utopia hat damit zwei Funktionen: Sie ist einerseits Darstellung dessen, was als reale Welt ist, aber nicht sein sollte; einer Welt, die von Inhumanitäten und Ungereimtheiten nur so strotzt; andererseits ist sie auch der phantasievolle Entwurf einer anderen, rein vernünftigen Welt, die nicht ist, aber – zumindest teilweise – sein könnte; ob sie auch Wirklichkeit werden sollte, das zu beurteilen überlässt Morus dem Leser. Er selbst bleibt skeptisch distanziert. Denn auch der reine Vernunftentwurf ist ebenfalls nicht frei von Widersprüchen, Inhumanitäten und Absurditäten, auch wenn diese sich zumindest vernünftig rechtfertigen lassen.

Der Abgleich zwischen der realpolitischen Welt des ersten Buches und der reinen Vernunftwelt der Insel Utopia im zweiten Buch wird damit zur Fahrt zwischen Skylla und Charyptis. Die Schilderung der Insel Utopia fungiert wie ein kritisches Korrektiv der realen Welt, aber nicht in Form einer plumpen Dystopie, sondern in Form eines raffinierten Gedankenexperiments, das einen Erkenntniswert für die zeitgenössische Wirklichkeit besitzt. Morus geht es aber nicht darum, die geschilderte Fiktion in die Wirklichkeit zu überführen, sondern durch die Betrachtung Utopias mit einem geschärften Blick für die Realität in diese zurückzukehren.

Er erreicht dies dadurch, dass er – wie gesagt – im zweiten Buch ein großangelegtes Gedankenexperiment der Vernunft unternimmt. Voraussetzung für das Vernunftexperiment ist die Isolation des Gegenstandes. Die Insel Utopia ist gleichsam die Laborsituation reiner Vernünftigkeit. Diesem Gedankenexperiment liegt die Frage zugrunde: Was vermag die Vernunft – gleichsam auf sich selbst gestellt, um ein geordnetes, dem Glück der Bürger förderliches Gemeinwesen zu entwerfen? Mit der Schilderung der Lebensumstände auf der Insel Utopia illustriert Morus die Antwort und macht die Konsequenzen reiner, d.h. kompromissloser Vernünftigkeit anschaulich. Er evoziert damit beim Leser die fast widersprüchliche Frage: Können wir vernünftigerweise wollen, dass wir unser Zusammenleben nach rein vernünftigen Maßstäben organisieren?

Schon in dem Versuch, einerseits eine Staats- und Gesellschaftsordnung aus reiner Vernunft zu entwerfen (und nicht aus dem Glauben, aus der Hinwendung zu natürlichen Ordnungen oder unter Verweis auf die Tradition), es andererseits dem Leser anheimzustellen, die daraus folgenden Konsequenzen – nämlich die Widersprüche, in die die Vernunft gerät, – kritisch zu beurteilen, darin liegt die historisch herausragende Bedeutung des Werks an der Nahtstelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Denn der absichtlich von Morus überzeichnete Vernunftoptimismus, von dem auch die Utopier vollständig durchdrungen sind, speist sich letztlich aus dem neuzeitlichen Anspruch, die Maßstäbe der Vernünftigkeit aus der Vernunft selbst zu gewinnen und dadurch wirklich Neues, bislang noch nicht Dagewesenes zu erschaffen. Die bemerkenswerte Modernität der Utopia begründet sich fraglos damit, dass Morus auf spielerisch-experimentelle Weise einen Vernunftbegriff antizipiert, der erst viele Jahrhunderte später als das prägende, mitunter verhängnisvolle Moment der Neuzeit insgesamt diagnostiziert wurde. Die Utopia lässt sich mithin als ein geistiges Experiment interpretieren, das die Konsequenzen eines dezidiert modernen Vernunfbegriffs bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf eine erstaunlich reflektierte Weise durchspielt und damit antizipiert, welche ambivalenten Folgen ein daran ausgerichtetes Handeln nach sich ziehen kann. Anders gewendet: Das Experiment soll sowohl die Vorzüge, aber auc als auch die Grenzen und Gefahren einer verabsolutierten Vernunft offenlegen, die einen Alleinvertretungsanspruch mit Blick auf das Gelingen des Lebens reklamiert. Es soll die Frage klären, ob die Vernunft aus sich heraus und auf sich gestellt überhaupt imstande ist, eine Ordnung des Zusammenlebens zu entwerfen, das dem Glück der Menschen dient.

3. Vernunft als Grundprinzip der utopischen Ordnung

Werfen wir also einen Blick in das Werk selbst, um das bislang bloß Vermutete zu bestätigen: Das Grundprinzip der utopischen Ordnung ist die Vernunft. Sie ist der Weg nach Utopia. An sie muss man sich halten, will man ans Ziel kommen. Sie ist gleichsam im ursprünglichen Sinne des Wortes die ‚Methode‘. Bedingt ist dieser Weg durch ihre Vorstellungskraft, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Eigentümlichkeit, Ordnungen zu erzeugen. Denn Utopia ist kein Erfahrungsding. Sie ist apriori und nicht aposteriori konstruiert und konstituiert. Folglich lässt sich das auffallendste Merkmal der utopischen Staats- und Gesellschaftsordnung so zusammenfassen: Die Vernunft ist das allem zugrundeliegende Fundament der utopischen Konstruktion. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird.

Die Dominanz der Vernunft wird letztlich schon dadurch vollständig, dass sich die Strukturen der fiktiven lnsel keiner tradierten Ordnung verdanken; sie ruhen weder auf einer göttlich oder natürlich gestifteten Kosmologie noch gibt es eine Einrichtung oder Sitte, die auf Überlieferung gründet, die aus übernatürlichen Befehlen folgt oder auf Anweisungen des mythischen Gründungskönigs Utopos zurückgeht – es sei denn, sie ist zugleich auch rational begründbar.

3.1 Die entwerfende Vernunft

Schon die Insel Utopia als Insel ist ein Entwurf der Vernunft, die sich ihre eigene, ihr gegenüber nicht widerständige Vorstellung von Wirklichkeit erzeugt. Dies ist die Grundlage des ganzen Vernunftexperiments. Der Gründungsvater der Insel, Utopos, fungiert als das Vernunftsubjekt, das Utopia als Insel erdacht, zweckmäßig organisiert und durchrationalisiert hat. Selbst die Sprache der Utopier inkl. eigenem Alphabet ist ein Entwurf der Vernunft. Und da klassisch die Sprache Stellvertreter und sichtbarer Ausdruck der Vernünftigkeit ist, entwirft sich die Vernunft mit Hilfe der Sprache gleichsam neu. Kurzum: Um die Möglichkeit des experimentellen Erkundens zu gewährleisten und die wirkenden Kräfte und ihre kausalen Folgen beschreiben zu können, bedarf es also offenbar einer Versuchsanordnung, die das Funktionieren des Systems von störenden Fremdeinflüssen vollständig abstrahiert. Die Schilderungen Raphaels am Beginn des Zweiten Buches, die sich auf die Insellage wie überhaupt die Geographie und Landeskunde von Utopia beziehen, geben gleichsam Auskunft über diese Versuchsanordnung.

3.2 Vernunft ‚more geometrico‘

Geografie und Landesstruktur Utopias sind durch und durch vernünftig und zweckmäßig geordnet. Die mathematisch-geometrische Architektur und Landesplanung zeigt ein ausgeprägtes konstuktivistisches Moment. Im Vordergrund steht immer der praktische Nutzen, die Vorteile der Überschaubarkeit, Regelmäßigkeit und Ordnung. Die Geschlossenheit der Utopie vollendet sich gleichsam in dem, was man ihre Geometrie nennen könnte.

Die Insel besitzt 54 Städte mit 6000 Familien zu 10 bis 16 erwachsenen Personen. Die Städte zählen damit zwischen 60 000 und 96 000 Einwohner plus Kinder. Wenn man bedenkt, dass in England seinerzeit nur in London knapp über 100 000 Einwohner lebten, so ist dies ein deutlicher Hinweis auf den urbanen Charakter Utopias. Die Hauptstadt Amaurotum – mit dessen Beschreibung sich Raphael begnügen kann, weil alle Städte über einen identischen, annähernd quadratischen Grundriss verfügen und auch sonst weitgehend übereinstimmen – heißt übersetzt zwar so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine unzweideutige Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die hisrorisch gewachsenen, spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte mit ihren engen, verwinkelten Gassen und den dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen und weit ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung, die funktionale Architektur, und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen und kaum Licht durchlässigen Öl- und Wachstücher – all das vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die planerische Leistungsfähigkeit einer technisch-funktionalen Vernunft. Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität.

Wie in der Kunst der Renaissance insgesamt, so kommt in der utopischen Stadt- und Landesplanung das Streben nach einfachen, übersichtlichen und harmonischen Anordnungen zum Ausdruck, das die Gestaltung der Teile und des Ganzen nach klaren geometrischen Grundverhältnissen vorsieht. Bereits den Humanisten galt der Staat in vielfacher Weise als Kunstwerk. Die wohlgeordneten Proportionen und Strukturen, wie wir sie noch heute in den Gärten der Renaissance bewundern können, sind jedoch nicht nur Zeichen der Ästhetik und Ausfluss eines strikten Rationalismus, sie sind zugleich Indiz politischer Modernität: War die mittelalterliche Welt, vereinfacht gesagt, eine durch Gottes Gnade und Gerechtigkeit gestiftete Ordnung, so präsentiert die Utopia nun den Menschen als alleinigen Urheber seiner gesellschaftlichen Institutionen. Auch soziale Ordnung und politische Herrschaft sind ausschließlich Werk der menschlichen Vernunft – und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt. In Utopia ist mithin alles vernünftig, nämlich – wie Descartes dies später nennen wird – „more geometrico“ geordnet.

3.3 Die utilitaristische Vernunft

Bei genauerer Betrachtung wird allerdings offenbar, dass nicht die Vernunft allein das alles bestimmende Element der utopischen Ordnung ist. Sie erfährt vielmehr eine Spezifizierung, oder anders ausgedrückt: Es handelt sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft, die das Fundament der Institutionen bildet: Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte der Utopier als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Man kann daher noch einen Schritt weitergehen und sagen: Für vernünftig halten die Utopier vor allem, was nützlich ist; genauer noch: was den Gesamtnutzen der Gemeinschaft maximiert.

Um ein deutliches Beispiel zu wählen: Weil die Utopier (anders als die kritisierten Europäer) Verbrecher nicht sofort totschlagen, sondern sie als Arbeitssklaven einsetzen, profitieren sie von deren Arbeitskraft, schenken den Verurteilten das Leben, lassen die eigenen Sitten nicht verrohen und erzielen zugleich eine größere, weil anhaltende Disziplinierungswirkung. Vor allem maximiert sich der Nutzen für die Gemeinschaft und folgerichtig wird die Regelung – neben ihrer ‚Menschlichkeit‘ – auch mit ihrer ‚Nützlichkeit‘ legitimiert. Aus dieser Perspektive verwundert auch kaum, dass die Utopier sogar zu Tode verurteilte Verbrecher aus fremden Ländern freikaufen und ebenfalls als Arbeitssklaven einsetzen, weil auch davon alle nur Vorteile ziehen’. Die Utopier handeln dabei immer nach der Maxime, dass eine Institution dann als legitim und vernünftig gelten darf, wenn sich der Kollektivnutzen durch diese Einrichtung maximieren lässt.

Es ist dieser grundsätzliche, sich wiederholende Gedanke, der die Rede vom ‚Utilitarismus‘ in der Utopia rechtfertigt. Neben dem rationalen Denken kennzeichnet die Utopier eine ebenso nutzenorientierte wie kollektive Grundhaltung. Damit gibt es also zwei weitere, korrelierende Prinzipien, die dem Vernunftgedanken in ihrer Bedeutung kaum nachstehen und zugleich die Qualität der Vernunft näher bestimmen. Der utopische Staat steht fest auf dem Fundament einer ‚utilitaristischen Allgemeinvernunft‘.

Der Nützlichkeitsaspekt steht aber auch mit Blick auf das Erziehungs- und Bildungswesen der Utopier im Vordergrund: Zwar trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Zweck des utopischen Erziehungswesens ist vielmehr die Vorbereitung für die Übernahme von politischen oder religiösen Ämtern sowie die Schulung für eine reibungslose Integration in das gemeinwohlorientierte und kollektive Leben der Utopier. Darüber hinaus sorgt das Bildungssystem für eine bemerkenswerte Gleichberechtigung der Geschlechter: Jungen und Mädchen werden in gleicher Weise von Kindesalter an unterrichtet und unterschiedslos widmen sich Männer und Frauen der Wissenschaft. Allen voran aber dienen die Erziehungseinrichtungen dem Ziel der Verbrechensprävention und leisten damit einen klar erkennbaren Dienst für den Gesamtnutzen der Gesellschaft. Auch die Wissenschaft verfolgt im letzten utilitäre Zwecke, nämlich die Kenntnis der Natur, die Voraussetzung ihrer Nutzbarmachung ist. Der Nützlichkeitsgedanke macht selbst vor der Gestaltung menschlicher Beziehungen nicht halt: er durchzieht nicht nur die gesamte Sozialordnung, sondern auch den Intimbereich personaler Beziehungen. Das Institut der Brautschau, das Verständnis der Ehe als Vernunftehe und die Möglichkeit auch der Scheidung, wenn es denn nützlich erscheint, gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Dass ausgerechnet die Frage der Ehescheidung, die auf Utopia scheinbar so vernünftig im Sinne der Zweckmäßigkeit gelöst ist, Thomas Morus in der wirklichen Welt 1535 im wahrsten Sinne des Wortes Kopf und Kragen kosten wird, gerade weil er im wirklichen Leben selbst nicht der Vernunftlogik der Utopia folgt, das bestätigt die Distanz, in der sein Leben, Denken und Glauben zur Welt des Raphael Hythlodaeus steht.

3.4 Die instrumentelle Vernunft

Unter dem Vernunftprinzip des utopischen Gemeinwesens kann grundsätzlich verstanden werden, dass als vernünftige Dinge offensichtlich nützliche Dinge gelten und dass es die Vernunft primär mit der Effizienz von Verfahrensweisen an vorgegebene Ziele zu tun hat.

Weil die utilitaristische Vernunft auf die Perspektive der Kosten-Nutzen-Maximierung angewiesen ist, könnte man von ihr auch als von einer instrumentellen oder primär zweckrationalen Vernunft sprechen. Instrumentelle Vernunft, Zweckrationalität und Utilitarismus beschreibt auch die Spezifik vieler Einrichtungen Utopias. Der instrumentelle Rationalitätstypus im speziellen kommt am konsequentesten auf dem Gebiet der utopischen Außen- und Kriegspolitik zum Tragen, weil dort nur noch das kalte Kalkül der Kriegslisten, die erfolgreiche Machtpolitik und der politisch-professionelle Effizienzgedanke triumphieren. Der Umgang mit eingekauften Söldnern etwa, der den eigenen Blutzoll der Utopier vermeiden hilft, gipfelt in blankem Zynismus, wenn sich die Utopier die kriegerische Dezimierung der verhassten Söldner schließlich als „Verdienst für die Menschheit“ an die Brust heften. Die instrumentelle Vernunft, so könnte man schon anhand dieses Beispiels sagen, fügt sich allem: Sie gibt sich den Zwecken der Widersacher der traditionellen humanitären Werte ebenso her wie denen ihrer Verteidiger.

3.5 Die kollektive Vernunft

Die utilitaristisch und instrumentell bzw. zweckrational wirksame Vernunft der Utopier folgt dabei nicht den Einzelinteressen der Individuen. Die Kernqualität der instrumentellen Vernunft ist vielmehr eine kollektivistische Orientierung. Ihre Zwecksetzung ist nicht dem Individuum überlassen. Vielmehr besteht von vorneherein ein Einklang von individuellem Wollen und allgemeinem Wohl. Daher müssen niemandem die Gesetze der Ordnung aufgezwungen werden.

Persönliches und gesellschaftliches Interesse fallen immer schon in Eins. Die Freiheit und Autonomie des Einzelnen wäre dafür nur ein im letzten unvernünftiger Störfaktor. Denn letztlich profitieren auch die Individuen (wenn man sie noch so nennen mag) von der Orientierung am Wohle aller. Doch das ist genau die entscheidende Frage: Wenn im Staate Utopia alles dem kollektiven Vernunftprinzip folgend installiert wird, dann ist dort kein Raum mehr für individuelle Zwecksetzung gegeben. Es wird nicht gefragt, was der Einzelne aus ureigenstem Interesse für sich als gut, richtig und vernünftig erachten würde, vielmehr wird geschildert, was für das Gemeinwesen das Vernünftigste respektive das Nützlichste ist. Die Frage einer rationalen Zustimmung des Einzelnen zum Gemeinwesen wird in der Utopia überhaupt nicht thematisiert, sie wird als immer schon beantwortet vorausgesetzt.

Insbesondere im Bereich der Ökonomie und der der Gesellschaft ist der Kollektivismus konsequent verwirklicht. Bereits die einheitliche, ungemein praktische Kleidung und die gemeinsam in großen Speisesälen eingenommenen Mahlzeiten sind beredter Ausdruck der Gleichheit aller Bürger. Selbst den Stadtpräsidenten unterscheidet kein besonderes Gewand oder ein Diadem von den übrigen Mitbürgern. Zudem praktizieren die Utopier alle zehn Jahre einen Wechsel ihrer Häuser; diese besitzen obendrein zweiflügelige Türen, die sich jederzeit von jedermann öffnen lassen: so gibt es keinerlei Privatbereich. Auch Privatbesitz ist den Utopiern fremd. Basis des gesamten Wirtschaftslebens ist das Gemeineigentum: Produktion, Güterverteilung und Organisation der Arbeit basieren nicht auf der Realisierung individuellen Gewinnstrebens, sondern auf kollektiver Planung. Die Berechnungen und Zuteilungen der Behörden haben zu gewährleisten, dass erwirtschafteter Überschuss an Stellen gebracht wird, wo Mangel herrscht. Die Verteilung der Güter erfolgt über die Familienältesten. Im Gegensatz zu Platon, der die Gütergemeinschaft auf die obersten Stände beschränkte, gilt der Kommunismus in Utopia für alle.

Im Brustton der Überzeugung betont Raphael daher gegen Ende seiner Schilderung, dass das Staatswesen der Utopier das einzige ist, das mit Recht den Namen „Gemeinwesen“ für sich reklamieren könne. Denn wo man sonst von Gemeinwohl spricht, haben es alle nur auf den eigenen Nutzen abgesehen; hier, wo es nichts Eigenes gibt, berücksichtigt man ernstlich die Belange der Allgemeinheit.

3.6 Die objektiv-natürliche Vernunft

Trotz dieser utilitaristischen, instrumentell-zweckrationalen und kollektivistischen Vernunftorientierung kommt noch einen weiterer Vernunfttyp bei den Utopiern vor. Für ihn gilt grundsätzlich das klassische Prinzip der Universalisierung, also: was alle wollen könnten. Die Konzeption unterstellt gewissermaßen eine allen Menschen zuteil werdende Allgemeinvernunft, verstanden als ein Vermögen, das einen objektiven Maßstab für Moralität liefert. Dieses vermittelt zwischen subjektivem und sozialem Glücksstreben und führt letztlich zu einer gemeingültigen Richtschnur, um zwischen Gut und Böse, richtig und falsch urteilen zu können. Denn das Modell setzt eine vernünftige Weltordnung voraus und postuliert, dass sich der Einzelne im Gebrauch seiner Vernunft sowohl in Einklang mit den Gesetzen der Natur wie den Interessen seiner Mitmenschen zu bringen vermag. Weil der Ursprung einer derartigen Objektivvernunft nur Gott oder die Natur selbst sein kann, lässt sich das Modell auch als objektiv-natürliche Vernunft kennzeichnen.

Ein derartiger Vernunftbegriff, der an Gott als der absoluten Vernunft oder der Natur als einer objektiven Vernunft Maß nimmt, findet sich bei den Utopiern im Bereich der ethischen Prinzipien sowie der religiösen Glaubensgrundsätze. Er wird dort in aller theoretischen Breite erörtert und als grundlegend für das utopische Gemeinwesen insgesamt postuliert.

3.6.1 Vernunft und Ethik

Betrachtet man zuerst die Ethik der Utopier, so liegt auch ihr ein solcher natürlicher Vernunftbegriff zugrunde. Verglichen mit dem modernen Naturrechtsdenken gelten den Utopiern jedoch nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte als Ausgangspunkt. Vielmehr ist es die Frage, worauf das Glück des Menschen beruhe, das ihren philosophischen Überlegungen zugrunde liegt. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept hauptsächlich als eudämonistisches Modell der Lustoptimierung. Denn ausdrücklich ist es die Lust (voluptas), in der die Utopier das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen. Sie vertreten damit nicht nur den wichtigsten Grundsatz des späteren, klassischen Utilitarismus, sondern stehen zugleich in der Tradition einer philosophiegeschichtlich stark vorgeprägten Position, wonach das Universum ohne Ausnahme den Naturgesetzen folgend funktioniere und alles Geschaffene mit der Fähigkeit ausgestattet sei, sich harmonisch in das Ganze der Natur zu fügen. Das Instrument hierzu ist nach fester Überzeugung der Utopier die Vernunft. Denn derjenige folge bloß „dem Zuge der Natur, der in allem, was er begehrt und was er meidet, der Vernunft gehorcht.“[2] Und: „die Natur selbst habe uns vielmehr ein angenehmes Leben, das heißt eben das Vergnügen, als Ziel unserer Handlungen vorgezeichnet, und nach ihrer Vorschrift zu leben, nennen sie Tugend.“[3]

Mit der Einheit von Natur und Vernunft fallen letztlich auch Glück, Tugend und Lust in Eins. Im Bereich der utopischen Ethik ist damit das Prinzip der natürlichen Vernunft nachhaltig verankert. Menschliches Glück gilt als das Ergebnis vernunftgemäßer Entscheidungen und Handlungen, durch die sich der Mensch in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur bringt, während umgekehrt die Missstände in weiten Teilen der Menschheit gerade aus dem vorsätzlichen oder versehentlichen Versuch resultieren, wider die Natur zu leben: Das unvernünftige Anrennen gegen ihre Gesetze sei Ursache der chronischen Übel wie Armut, Verbrechen und Krieg. Und diese gelten den Utopiern daher konsequenterweise auch als allein vom Menschen selbst verursacht.

Freilich ist die Form des utopischen Glücks- und Luststrebens keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, sondern ein weitgehend rational geleitetes Vorgehen der Lustoptimierung. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Falsche Bedürfnisse sollen den wahren Freuden den Weg nicht verbauen und so halten die Utopier in allem die Regel ein, dass der größten Lust nicht eine geringere im Wege stehen und das Vergnügen nicht Unbehagen nach sich ziehen dürfe. Zu diesem Zweck unterscheiden die Utopier grundsätzlich zwischen körperlichem und seelischem Lustempfinden. Dabei verabscheuen sie zwar keineswegs den Lustgewinn, der sich aus der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ergibt, doch in der Hauptsache sind es seelische und geistige Dinge, aus denen sie ihre Freude ziehen. Als falsche Bedürfnisse gelten den Utopier z.B. die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeichnungen“ bewundern zu lassen; ebenso das Gewerbe der Jagd, das in der „Lust, dem Morden zuzuschauen“ bestehe und folglich den Sklaven überlassen bleibt. Ursache der „falschen Vergnügungen“ und „üblen Verlockungen“, so glauben sie, sei freilich „nicht die Natur“, sondern die irregeführte Gewohnheit der Menschen“.

Damit ist zugleich eine tiefe Ablehnung gegenüber dem Streben nach materiellen oder geltungssüchtigen Bedürfniszielen verbunden: Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt: Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemeinsam. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen sie daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden selbst, das Nichtige und Unnütze aber am weitesten entrückt“. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“. Für die verquere ökonomische Logik, die die Knappheit einer Ressource zum wichtigsten Kriterium erhebt, haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Und sie entwickeln sogar Strategien, mit der sie die Hochschätzung des Goldes lächerlich und ehrlos machen..

Das deutlichste Beispiel freilich einer dezidiert utilitaristischen Ethik, die zugleich mit den Vorgaben der natürlichen Vernunft harmoniert, liefert das Euthanasie-Gebot auf der Insel Utopia: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude mehr abzugewinnen und die Nutzlosigkeit des Weiterexistierens für alle Beteiligten offenkundig geworden sei, dann solle der Betreffende, der zur Last für alle wird, ohne Furcht, aber voller Hoffnung aus dem Leben treten. Er wird dazu von Priestern und Behörden ermuntert.

3.6.2 Vernunft und Religion

Auch die Religion[4] hat sich dem utilitaristischen, instrumentellen und kollektivistischen Vernunftanspruch unterzuordnen. Das entscheidende Merkmal des religiösen Lebens der Utopier ist die Tatsache, dass auch ihre Glaubensüberzeugungen hauptsächlich auf Vernunft­über­le­gungen ruhen. Die rationale Fundierung hat einen einfachen Grund: Die Utopier entbehren der Gnade göttlicher Offenbarung. Damit sind sie eindeutig als Heiden im theologischen Sinn gekennzeichnet. Das religiöse Leben muss daher vom Motiv der Toleranz geprägt sein. Auf der Insel gilt grundsätzlich, „dass jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, dass er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege“. Die Vernunft wird also gegen religiösen Fanatismus ins Feld geführt und gebietet eine tolerante Grundhaltung. Die Toleranz liegt sogar im Interesse der Religion selbst, weil kein Mensch wissen könne, ob nicht Gott die Verehrung durch verschiedene Religionsformen wünscht. Infolgedessen halten die Utopien ihre feierlichen und staatlichen Gottesdienste am jeweiligen Monatsende auf der Grundlage eines rituellen Minimalkonsenses ab. Keine Glaubensgruppe ist gezwungen, ihrer Lehre widersprechende Kulte zu praktizieren. Falls es aber tatsächlich nur eine einzige, wahre Religion geben sollte, so glauben die Utopier, dass diese „Wahrheit sich schließlich einmal von selbst durchsetzen und zeigen werde, sofern die Sache vernünftig und maßvoll betrieben werde“. Bis dahin ist die Religionsfreiheit die einzige Freiheit, die es in Utopia gibt. Sie äußert sich in einer Fülle unterschiedlicher Sitten, Kulte und Traditionen, die von der Verehrung der Sonne, des Mondes, verschiedener Planeten bis hin zur Huldigung eines bestimmten Menschen als höchste Gottheit reicht. Eine Einheitsreligion kennen die Utopier also nicht, dennoch findet die religiöse Vielfalt in der Vernunft gewissermaßen eine Grenze. Sie sorgt tendenziell dafür, dass sich die Utopier von der Vielfalt abergläubischer Vorstellungen abwenden und sich jener Religion anschließen, „die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint.“

Bei den Utopiern kann es, weil sich Religion als nützlich erweist, weder Atheisten noch Materialisten als Staatsbürger geben. Ihnen wird keine Ehrung zuteil, kein Amt übertragen und keine leitende Stellung im Staatsdienst anvertraut. Sie werden zudem daran gehindert, ihre Meinung öffentlich zu vertreten und nur den Priestern gegenüber werden sie aufgefordert zu reden, im festen Vertrauen, ihr „Wahn werde endlich der Vernunft weichen“. Diese Vernunft scheint freilich mit den Vorgaben der herrschenden Staatsraison nahezu identisch. Denn Maßstab, was nützliche Religion, was bedrohlicher Atheismus oder gefährlicher Fundamentalismus ist, liefert die politische Vernunft. Religiöser Fanatismus erfährt demzufolge auch seine konsequente Behandlung: Der Einzige, der während Raphaels Aufenthalt je gemaßregelt wurde, war ein christlicher Eiferer, der das Christentum allen übrigen Religionen voranstellte, Andersgläubige als „verruchte Lästerer“ beschimpfte und ihnen allesamt die ewige Verdammnis verkündete. „Als er auf diese Weise immer weiter predigte, verhafteten und verklagten sie ihn und machten ihm den Prozess, nicht wegen Verachtung der Religion, sondern wegen Erregung öffentlicher Unruhe, verurteilten und bestraften ihn mit Verbannung“. # Religiöser Fanatismus wird also nicht theologisch sanktioniert, sondern im Rahmen der gebotenen Staatsräson nach politischen Gesichtspunkten bestraft. Alles in allem lässt sich also festhalten, dass die vorherrschende religiöse Lehre neben den Merkmalen Toleranz und begrenzter Pluralität auch auf politischer Opportunität basiert und dabei durchweg rational begründet ist.

3.7 Die Ambivalenzen der Vernunft

Morus hat in den einzelnen Abschnitten der Utopra durchaus unterschiedliche Vernunftkonzepte zur Geltung gebracht und im Rahmen der skizzierten Begriffe spielt sich auch weitgehend das Experiment der utopischen Vernunft ab. Es ist vielschichtig und kaum als einfaches Plädoyer für oder wider die utilitaristische Rationalität schlechthin interpretierbar. Immer aber gilt: Die einzelnen Facetten der Vernunftdiskussion fordern stets zur Wachsamkeit heraus, weil Nützlichkeit und Absurdität oft nur eine Haaresbreite auseinanderliegen. Da muss selbst dem naivsten Leser die Frage kommen, wie es um die Vernunft des Raphael gestellt ist, der als Sprecher, ja Prophet der reinen Vernunft auftritt. Es lohnt sich also, die Figur des Raphael Hythlodaeus etwas näher zu betrachten! Er ist die schillerndste Gestalt der Erzählung und zweifellos die einzige, in der Utopia frei erfundene Person.

Ein erster Zugang zu seinem Verständnis erschließt sich über die Namensgebung. Der Nachname enthält zwei griechische Begriffe: „hythlos“ heißt Posse oder Geschwätz; bei dem Wort „daios“ ist allerdings die Betonung entscheidend: daios (mit langem a) heißt „feindlich“, demzufolge wäre Raphael der Feind des Geschwätzes oder eben: der inhaltsschwere, weise Philosoph. Liest man jedoch däios (mit kurzem a), so wie es die meisten Interpreten tun, dann erhält man Raphael, den Schwätzer und Possenerzähler, denn das Wort bedeutet dann so viel wie „erfahren“ oder „kundig“. Dass damit die gesamte Perspektive wechselt, liegt gleichsam auf der Hand. Doch nicht einmal das ist wirklich eindeutig, denn selbst bei einer unzweideutigen Übersetzbarkeit könnte der Name im Sinne humanistischer Satire noch immer ironisch gemeint sein.

Eindeutig freilich ist, dass Raffael Hythlodaeus als deutliche Kontrastfolie zu den anderen Figuren der Erzählung konzipiert ist. Hythlodaeus ist nicht nur ein Fremder, sondern auch ein unübersehbarer Fremdkörper innerhalb der humanistischen Gesellschaft: Die englischen und holländischen Gesandten sind im Auftrag ihrer Fürsten nach Flandern gereist, Peter Aegidius (Gilles) ist Stadtschreiber von Antwerpen, und Morus erzählt eingangs der Utopia, dass er die Schrift unter anderem wegen seiner Richtertätigkeit und den Pflichten als Familienvater nicht frühzeitiger abliefern konnte. Raphael aber verpflichtet nichts dergleichen. Er beansprucht, ohne jede Bindung an das Gemeinwesen zu leben. Sein gesamtes Vermögen hat er bereits zu Lebzeiten seinen nächsten Verwandten vererbt. Was Raphael als „Großmut“ ausgibt, ist im Grunde ein höchst eigennütziges Verhalten, weil er sich auf diese Weise nur von jeder sozialen Verantwortung freizukaufen intendierte. Er lehnt den vorgeschlagenen Beraterdienst kategorisch mit der Begründung ab, die Mächtigen würden ohnehin nur die eigene Meinung hören wollen. Er selbst erweist sich jedoch gewissermaßen als „beratungsresistent“ und unbelehrbar und präsentiert sich als Inhaber alleiniger Wahrheit. Insofern zeichnet Raphael nicht nur die Unfähigkeit zum Kompromiss aus, sondern auch ein gehöriger Mangel an Selbstreflexion und Toleranz. Er gerät auf diese Weise in groteske Widersprüche zu sich selbst. So entwirft ausgerechnet er – die völlige Losgelöstheit in Menschengestalt – das Bild eines Gemeinwesens, in dem von Staats wegen alles für den Einzelnen festgelegt wird und das Gemeinwohl über jede individuelle Selbstbestimmung triumphiert. Er selbst lebt als Weitgereister und Bindungsloser, wie er will, und nimmt für sich das in Anspruch, was er den Utopiern aus Vernunftgründen madig zu machen versucht: nämlich individuelle Freiheit und Autonomie.

Damit ist die Inkonsequenz keineswegs zu Ende: Er kündigt an, die die Einrichtungen und Sitten der Utopier nur zu beschreiben, bricht aber Gegen Ende seiner Rede in ein derart flammendes Plädoyer für die Utopier aus, dass er seine angeblich neutrale Haltung damit völlig ad absurdum führt. Je mehr im Laufe des Berichts sogar die negativen Elemente Utopias in den Vordergrund treten, desto feierlicher und unreflektierter wird Raphaels Haltung.

Wie kurz der Weg sein kann von einem ehrlich gemeinten, nur dem Studium zugewandten Leben der vita contemplativa zu einer selbstgerechten, der Realität abgewandten Haltung, das zeigt sich mithin eindrücklich im schillernd-vielseitigen Charakter des Raphael Hythlodäus. In seiner Figur liegt im Grunde der gesamte Reiz des Utopia-Projekts verborgen. Raphael ist, so könnte man sagen, die Ambivalenz der Vernunft in Person. Und er ist der Prophet einer selbstgerechten, in sich selbst verkapselten, von sich selbst berauschten und sich selbst gegenüber blinden Vernunft.

Dem Dialog-Morus – und damit endet die gesamte Schrift – scheinen diese Widersprüche nachdenklich zu stimmen. Seine Bedenken formuliert Morus freilich nicht an die Adresse Raphaels, sondern richtet sie – gleichsam in Art eines Resümees – mit dem letzten Abschnitt seines Werkes direkt an den Leser, der sich selbst ein Urteil bilden soll:

Als Raphael so erzählt hatte, kam mir vielerlei in den Sinn, was mir an den Sitten und Gesetzen jenes Volkes überaus sonderbar erschienen war: nicht nur in der Methode ihrer Kriegsführung, im Gottesdienst und in der Religion und noch anderen ihrer Einrichtungen, sondern vor allem auch in dem, was die eigentliche Grundlage ihrer Verfassung ist, nämlich in ihrem gemeinschaftlichen Leben und der gemeinschaftlichen Beschaffung des Lebensunterhaltes ohne allen Geldverkehr. Wird doch alleine schon durch diese eine Verfassungsbestimmung aller Adel, alle Pracht, aller Glanz, alle Würde und Majestät, also nach der landläufigen Ansicht alle wahre Zierde und aller Schmuck des staatlichen Lebens von Grund auf umgestürzt. […] Bis dahin kann ich gewiß nicht allem zustimmen, was er sagte (übrigens ohne allen Zweifel ein höchst gebildeter und weltkundiger Mann!), indessen gestehe ich doch ohne weiteres, dass es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung.[5] 

Schluss: Zur Realisationsdimension der Utopia – die Schrift als frühneuzeitliche Vernunftkritik

Der utopische Staat des Thomas Morus ist weder Wunsch- noch Furchtbild, weder Eutopie noch Dystopie. Er ist weder einfach das Gegen- noch das Vorbild für ein gelingendes Gemeinwesen, das das Glück seiner Bürger ermöglichen kann. Und die Utopia ist auch nicht bloß eine humanistische Satire. Auch isrt es nicht die Intention des Verfassers, die Insel Utopia als Vorbild zur praktischen Umsetzung zu empfehlen. Denn wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswunsch fast von selbst. Sie ist daher auch kein politisches Aktionsprogramm, auch wenn sie an einigen Stellen dem Charakter einer Reformschrift verdächtig nahekommt. Die Utopia enthält folglich auch kein Transformationskonzept, also eine Beschreibungen oder gar praktische Anweisungen für einen Übergang von der historischen zur utopischen Wirklichkeit.

Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift eindeutig: „Utopia“ heißt Nirgendwo. Der Geltungsanspruch der Utopie versteht sich also nicht als Vorlage zur innerweltlichen Beseitigung aller Missstände. Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt. Gerade diese Konstruktion aber ist es letztlich, was die Utopia zur Utopie im ursprünglichen Wortsinn macht: Sie ist der voraussetzungsfreie Entwurf einer Gesellschaft ohne Vermittlungsinstanz, d.h. ohne eine Verwirklichungsdimension aufzeigen zu können und auch ohne diese aufzeigen zu wollen.

Und wenn man den Titel der Schrift etwas genauer unter die Lupe nimmt, dann lässt sich über die Realisierungsdimension der Utopie sogar noch mehr sagen: sie ist eine Mahnung davor, eine durch und durch glückliche Welt unter Bedingungen der Endlichkeit mit Hilfe alleine der endlichen Vernunft überhaupt für realisierbar zu halten. Eine Eutopie, mag sie vom Menschen noch so vernünftig und zweckmäßig erdacht werden können, ist nicht realisierbar, ja, dies kann auch gar nicht wünschenswert sein. Eine reale Eutopie bleibt immer eine Utopie, sie hat keinen Ort in dieser Welt und wird nie einen Ort in dieser Welt haben.

Das genau ist übrigens auch die Kernbotschaft bereits des Titels, wenn man die Ethymologie des Wortes „Utopia“ genauer betrachtet: Die Wortneuschöpfung des Morus ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“ heißt „nicht“, „topos“ heißt „Ort“. Utopia bedeutet also Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo. Die Negation „ou“ findet freilich im Griechischen regelmäßig Verwendung nur als Satzverneinung, während für die Negation eines Adjektivs oder Substantivs das sogenannte „alpha privativum“ genutzt wird. Wir kennen das aus eingedeutschen, ehedem griechischen Wortbildungen wie „apolitisch“ oder „amoralisch“. Gleichwohl darf unterstellt werden, dass Morus‘ fehlerhafte Wortschöpfung kein Versehen war. Morus war – wie alle Humanisten – ein begeisterter Gräzist. Und mit Begriffen einen Witz zu machen, war ein beliebtes humanistisches Spiel. So sind auch die beiden griechischen Präfixe „ou“ und „eu“ im Englischen homophon. Im Englischen werden sowohl „Eutopia“ als auch „Utopia“ als YUTOPIA gesprochen. Ein in den Text der Schrift integrierter Sechszeiler, in dem die Begriffe Utopia und Eutopia als Wechselbegriffe verwendet werden, stützt diese Deutung, derzufolge eine Eutopie immer eine Utopie bleiben muss. Einen wirklich vollkommen guten oder glücklichen Ort gibt es unter Bedingungen der Endlichkeit nicht! Er ist ein Nicht-Ort, eine Fiktion oder Illusion.

Anders gewendet: Das vollkommene irdische Glück der Menschen in einem politischen Gemeinwesen von der Konstruktionsleistung alleine der sich selbst überlassenen Vernunft zu erwarten – dies könnten wir vielleicht wünschen, aber vernünftigerweise gar nicht erhoffen. Es wäre angesichts der zu erwartenden Absurditäten eine Torheit sui generis.

Man könnte fast den Eindruck haben, die Utopia sei eine Fortsetzung und Ergänzung der Schrift „Laus Stultitiae“ (dem „Lob der Torheit“) des Erasmus von Rotterdam, die dieser 1509 während eines Aufenthalts in England bei seinem Freund Thomas Morus verfasst und diesem auch gewidmet hatte.[6] Dies machte auch das besondere Interesse des Erasmus an der Utopia erklärlich. Erasmus sieht im „Lob der Torheit“ überall Dummheit am Werk: im Leben der Menschen, in der Politik, in der Kirche, in der Wissenschaft. Überall mangelt es an Vernunft und dennoch sind die Menschen glücklich. Das Närrische und die Dummheit scheinen sich sogar günstig und förderlich auf das Miteinander der Menschen auszuwirken. Denn wo die Dummheit auftritt, dort herrscht Freude und Frohmut, alle stehen in ihrer Schuld, denn sie hat ihre Gaben – auch ungefragt – immer großzügig verteilt an jedermann, so dass kein Mensch ohne ihre Gunst ein angenehmes Leben führen kann. Nur Torheit allein schafft Freiheit und Glück. Daher kann die Weltherrscherin Stultitia, die sich mit ihren Töchtern Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust die Welt untertan gemacht hat, auch sagen: „Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten, als um Befreiung von der Torheit.“[7]

Wo Erasmus überall Dummheit am Werke sieht, dort waltet auf der Insel Utopia überall die Vernunft. Auch sie hat sich die Welt untertan gemacht. Die Töchter der Stultitia, Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust, sind erfolgreich bekämpft bzw. eingehegt. Doch macht das Regime der Vernunft wirklich glücklich? Verstrickt sie sich in ihrem Herrscherfuror und ihrer Radikalität nicht vielmehr in Absurditäten und Widersprüche? Täte den Menschen nicht gelegentlich auch etwas mehr Inkonsequenz, ja Dummheit gut, um wirklich glücklich genannt werden zu können? Dürfen wir also von der Herrschaft der Vernunft zumal dann, wenn sie sich primär utilitaristisch, zweckrational-instrumentell und kollektivistisch gebärdet, tatsächlich die Beendigung aller Glücklosigkeiten erhoffen? Oder brauchen wir gar eine andere Vernunft – eine im Kern moralisch-praktische, die den Primat gegenüber einer bloß theoretisch-instrumentellen Vernunft in Anspruch nimmt? Neuzeit und Moderne werden sich genau an dieser Frage abarbeiten.

Von ausgelassenen Freudenfesten auf Utopia berichtet Raphael jedenfalls nichts. Und zu einem „Lob der Vernunft“, einem „Laus Rationis“  kann sich der Morus der Utopia auch nicht entschließen. Denn das Ergebnis des Utopia-Experiments lautet: Vieles manchen die Utopier auf ihre Weise zwar besser als die europäischen Christen (es kommen unter dem Diktat reiner Vernunft vielleicht weniger Dummheiten vor), aber längst nicht alles – und manches gewinnt bisweilen höchst groteske Züge. Die Schrift könnte daher auch als „Kritik der Vernunft“ gelesen werden und zwar in dem Sinne, dass sie die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines bestimmten Typs von Vernunft deutlich offenlegt. Die zentrale Botschaft der Schrift, die auf die Neuzeit vorausweist, könnte dann lauten: Solange die Vernunft ihre Grenzen kennt und dabei ihre Voraussetzungen selbst reflektiert, solange ist sie ein ausgesprochen heilbringendes Vermögen. Versucht sie aber, sich selbst genug zu sein, sich als letzte und absolute Instanz zu inszenieren, mithin den Menschen und all seine Verhältnisse zu ihrem Sklaven zu machen, ohne gleichzeitig auch moralisch-praktische Vernunft zu sein, dann verwickelt sie sich zwangsläufige in Paradoxien und Antinomien und gebiert absurde Dilemmata.

Wir können uns zwar gerne mehr Vernunft und Vernünftigkeit in der realen Welt des Politischen und Sozialen wünschen, aber das vollkommene Glück, ja die Erlösung von irdischen Zwängen und die wahre Freiheit haben wir nicht von ihr, sondern von einer je höheren, nämlich moralisch-praktischen Vernunft (wie sie sich im Gewissen zeigt), und im Letzten von der Weisheit Gottes (wie sie sich in der Offenbarung zeigt) zu erhoffen. Ansonsten wäre die Vernunft – zumal für einen frommen Christen wie Thomas Morus – die größte aller Torheiten. Auch für diese Überzeugung ist Thomas Morus 1535 unter dem Beil gestorben. Denn: Nur um dieser höhere Vernunft und Glückseligkeit willen – und nur ihretwegen – lohnt es sich, Kopf und Kragen zu riskieren.


[1]     Das Werk wird im Folgenden zitiert nach der Reclam-Ausgabe Thomas Morus: Utopia. Übertragen von Gerhard Ritter. Mit einem Nachwort von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1964.

[2] Ebd. 93.

[3] Ebd. 94f.

[4] Vgl. zum Folgenden ebd. 133-149.

[5] Ebd. 154f.

[6] Zitiert nach der Reclam-Ausgabe Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Übersetzt von Anton J. Gail, Stuttgart 1986.

[7] Ebd. 24.

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