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In einer liberalen und demokratischen Gesellschaft ist keine Idee des guten Lebens, sind keine substantiellen Wertorientierungen oder kulturellen Identitäten vor Kritik oder Revision sicher. In liberalen Gesellschaften vervielfältigen und privatisieren sich die Konzepte des guten Lebens, die Wertorientierungen und Identitäts- und Lebensentwürfe. Das faktisch noch gemeinsam geteilte Gute, nämlich das in den liberalen und demokratischen Institutionen selbst verkörperte gemeinsame Gute, kann jetzt erstens nur noch als Kreuzungspunkt einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des guten Lebens verstanden werden, und es kann eben deshalb zweitens nicht mehr als der allein privilegierte Ort des guten Lebens verstanden werden. Das gemeinsam geteilte öffentliche Gute wird relativiert gegenüber der Vielfalt individueller oder auch in freiwilligen Assoziationen verfolgten Sinn- und Lebensentwürfen. Das gemeinsame Gute der demokratischen Lebensordnung lässt sich nur bestimmen durch Angabe der normativen Bedingungen – d.h. der liberalen und demokratischen Prinzipien -, unter denen die exzentrische Vielfalt der je individuellen oder besonderen Entwürfe des Guten egalitär sich entfalten kann. Damit dies gelingen kann, bedarf es einer Art „demokratischer Sittlichkeit“[1]. Der Begriff der demokratischen Sittlichkeit meint eine Habitualisierung liberaler und demokratischer Verhaltensweisen, wie sie nur durch den Gegenhalt in entsprechenden Institutionen, Traditionen und Praktiken zustande kommen und sich reproduzieren und perpetuieren lassen.

Was nun am Begriff einer demokratischen Sittlichkeit paradox erscheint, ist, dass er nicht substantiell, sondern formal oder – in einem Terminus von Jürgen Habermas, „prozedural“ zu bestimmen ist.[2] Denn es gibt keine sittliche Substanz jenseits des demokratischen Diskurses, der sich in einer für alle verbindlichen Form, sei es philosophisch, sei es theologisch, begründen oder zementieren ließe. Also müssen es die Bedingungen des demokratischen Diskurses selbst sein, die den Kern einer demokratischen Sittlichkeit definieren. Da zu diesen Bedingungen eine Garantie, und zwar eine jeweils in bestimmter Weise institutionalisierte Garantie, individueller Grund- und Freiheitsrechte gehört, mag es freilich als irreführend erscheinen, wenn man von einem prozeduralen Kern der demokratischen Sittlichkeit spricht. Es ist aber schwer, ein besseres Wort zu finden: denn worum es geht, ist eine Art des Umgangs (auch) mit (unauflösbaren) Dissensen, Heterogenitäten und Konflikten, wie sie für moderne Gesellschaften, die zugleich liberal und differenziert sind, strukturell unvermeidbar sind. Man muss sich – gegenüber kontextualistischen Einwänden – nur vor Augen halten, dass natürlich jeder kommunikative und diskursive Umgang mit Dissensen oder Konflikten, und zwar ebenso wie jedes formale demokratische Verfahren, seine jeweils bestimmten kontextuellen Voraussetzungen hat und unter jeweils konkreten kontextuellen Anforderungen steht.

Man könnte das Wort „prozedural“ dann so erläutern: Es bezeichnet einen Modus des Umgangs mit Konflikten und Dissensen, bei dem die Orientierung an den normativen Bedingungen des demokratischen Diskurses selbst zwar nicht den einzigen, wohl aber den einzigen unhintergehbaren Leitfaden der Urteilsbildung definiert. Dass die sittliche Substanz moderner Gesellschaften auf einen prozeduralen Kern zusammenschrumpften muss, bedeutet zugleich, dass sie mit keiner emphatischen Idee eines versöhnten Ganzen mehr kompatibel ist. Diese Idee wird vielmehr tendenziell totalitär. Dies ist, aus der Perspektive des Übergangs zur Moderne, nach Hegel die „Tragödie im Sittlichen“, die Hegel in der Konstitutionsgeschichte der modernen Freiheit entdeckte; und das heißt zugleich als Ingrediens jeder modernen Form der Sittlichkeit, die sich auf die allgemeine und wechselseitige Anerkennung eines Rechts der Besonderheit gründet. Das „Bedürfnis der Vereinigung“ wäre dann, was die Gesellschaft im Ganzen betrifft, nur noch durch die demokratische Teilhabe aller an den vielfach abgestuften Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen der Gesellschaft zu befriedigen.

Der Begriff einer „demokratischen Sittlichkeit“ definiert somit nicht schon einen bestimmten Inhalt des guten Lebens, sondern nur die Form einer zugleich egalitären und kommunikativen Koexistenz, einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des Guten. Und das heißt zugleich, dass das politische Leben nicht mehr nur der einzige oder privilegierte Ort des guten Lebens sein kann. Das gemeinsame Gute einer demokratischen Lebensform kann zwar  nicht existieren ohne zugleich ein Zweck zu sein; insofern geht es in der kommunitären Praxis demokratischer Teilhabe immer auch um die Sicherung und Erweiterung ihrer eigenen Grundlagen. Aber unter den Bedingungen der Moderne schließt dieser Zweck immer auch und wesentlich ein Recht der Besonderheit ein, d.h. ein zentrifugales Moment der Entzweiung, der Negativität, der konfliktreichen Pluralisierung des Guten, und hierdurch wird es unmöglich, Demokratie und bürgerliche Tugenden noch einmal zu einem substantiellen Ganzen zusammenzuschließen.

Übrigens setzt die Notwendigkeit zur prozeduralen Verständigung über das gemeinsame Gute im Ethos der Demokratie voraus, dass die Bürger erzogen und gebildet sind. Denn insbesondere die Demokratie ist gleichsam die der Bildung der Bürger bedürftige Regierungsform.[3] Bildung und Erziehung sind aber auch die unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, dass der Einzelne auf der Suche nach seinem Glück sein Leben selbstbestimmt führen kann. Denn Erziehung und Bildung sind für den Menschen unentbehrlich, mithin ein Grundbedürfnis. Erzogen worden und gebildet zu sein muss daher im Interesse eines jeden Individuums liegen – nicht zuletzt um der dadurch eröffneten Möglichkeit der Gestaltung seiner Freiheitsräume willen. Sie liegt aber nichtsdestoweniger auch im Interesse des politischen Gemeinwesens. Denn wenn sich der moderne freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat darüber definiert, ein friedliches und Freiheitsräume sicherndes Zusammenleben aller zu gewährleisten, dann ist die Demokratie als die Regierungsform zu bezeichnen, die der Bildung ihrer Bürger bedürftig ist. Dies gilt um so mehr in einer rasant sich entwickelnden wissenschaftlich-technischen Welt. Denn es ist zu gefährlich, mit nicht-gebildeten Menschen in einer Demokratie und in der technischen Zivilisation zusammenzuleben. Nicht-gebildet heißt, nicht mit den gemeinsamen Regeln des Handelns vertraut und der gemeinsamen Formen des Erkennens nicht mächtig zu sein. Denn der ungebildete Mensch hat nicht gelernt, der Vernunft zu folgen, mithin Gründe für sein Handeln angeben und dadurch Verantwortung übernehmen zu können. Positiv gewendet: der Bürger, der in der Demokratie aufgrund seiner Partizipationsrechte am politischen Entscheidungsprozeß und an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv mitwirkt, muss gebildet und aufgeklärt sein. Er darf nicht dunklen Kräften und Stimmungen folgen, sondern er muss Urteilskraft besitzen, ein sittliches Bewusstsein und Tugenden ausgebildet haben. Er muss verstehen, dass und warum er in einer Gemeinschaft lebt, der gegenüber er verantwortlich ist, welches die Quellen ihres Selbstverständnisses sind, was sich in ihrer Geschichte bewährt hat und welchem allgemeinen sittlichen Regeln sie verpflichtet ist. Um der Stabilität und Aufrechterhaltung der Demokratie und ihrer eigentümlichen Einscheidungsfindungsprozesse willen bedarf der demokratische Verfassungsstaat der Erzogenheit und Gebildetheit der Bürger.

Aus dem Blickwinkel des politischen Gemeinwesens macht die Bildung den Menschen weder zu einem tüchtigen Ingenieur oder Zahnarzt oder Kaufmann noch zu einem Gelehrten, sondern in erster Linie zu einem verständigen Bürger, der „mündig“ ist in dem Sinn, dass er am politischen Meinungsbildungsprozess teilnehmen, seine Überzeugungen artikulieren, ihre Gründe argumentativ darlegen und für sie werben kann. Da dies nicht von Anfang an vorauszusetzen ist, darf der Mensch erst an der Demokratie teilnehmen, nachdem gesichert ist, dass er erzogen und gebildet worden ist (Volljährigkeit). Gerade weil der demokratische Verfassungsstaat nicht von vornherein garantieren kann, dass die Bürger vernünftig entscheiden und weil niemand für sich das Monopol beanspruchen kann, definieren zu können, was das vernünftige ist, müssen die Bürger gebildet sein – um nicht verführbar zu sein, um ihre eigenen und die vom Staat geschützten Freiheitsräume konfliktfrei und unter Beachtung der Freiheit anderer auch gestalten und das eigene Leben so leben zu können, dass sie dem Gemeinwesen nicht zur Last werden. Nicht nur das Subsidiaritätsprinzip, dem alles staatliche Handeln verpflichtet ist, sondern auch die sozialstaatliche Verfasstheit des politischen Gemeinwesens ebenso wie die Rechtfertigung der Trennung von Staat und Gesellschaft setzen die Bildung der Bürger voraus. Sie ist somit die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Freiheit im Staat nicht zur Gefahr wird und soziale Gerechtigkeit im Sinne der gleichen Teilhabe aller an den Chancen, die das Zusammenleben im Staat bietet, überhaupt realistisch angezielt werden kann.


[1] Vgl. dazu in Anlehnung an Hegels Begriff der „Sittlichkeit“ A. Wellmer, Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen, in: M. Brumlik und H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt 1995, 173-196, hier: 185.

[2] Vgl. dazu J.  Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985.

[3] Vgl. dazu A. G. Wildfeuer, Um der Freiheit willen: Zur legitimationstheoretischen Rekonstruktion eines originären Erziehungs- und Bildungsauftrages des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates, in: N. Glatzel u. U. Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Grafschaft 2000, 297-316.

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