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Im öffentlichen Diskurs taucht der Verweis auf die Würde des Menschen vor allem im Sinne der Begründung des eigenen Anspruchs auf Abwehr- und Partizipationsrechte oder mit Blick auf die Rechte bzw. Ansprüche gegenüber anderen oder dem Staat auf, Ansprüche, auf die man für sich pocht oder die man stellvertretend für andere einklagt und die sich in den Inhalten der Menschenrechte konkretisiert haben. Viel weniger im Bewusstsein ist, dass die Würde aus der Perspektive des Individuums nicht primär ein Anspruch, sondern eine Gabe ist, der eine Aufgabe, ja eine Verpflichtung dessen korrespondiert, der solchermaßen ausgezeichnet ist. Erst darin, dass sich die gegebene Würde auch zum Ausdruck bringt, erfüllt sich ihre Bestimmung.

In der geistesgeschichtlichen Tradition des Würdegedankens ist dies unbe­stritten. So ist bei Cicero mit der Auszeichnung durch die Vernunftnatur des Menschen zugleich die sittliche Verpflichtung verbunden, die Welt zu ordnen, eine zweite Natur in der ersten, die menschliche in der göttlichen zu schaffen.[1] Dabei ist es nicht nur der intellektuelle Hinwendung zu Gott und dem Kosmos, in der sich die Würde des Menschen vollendet, sondern bereits in der Stoa wird der Akzent stärker auf die vita activa gelegt, so dass der Dignitas-Gedanke primär auch einen Appellcharakter im Sinne der Selbstverpflichtung zur tatsächlichen Veränderung der Welt und des Zusammenlebens in ihr hat. Wichtigste Voraussetzung dafür, der in der Würde liegenden Selbstverpflichtung gewahr zu werden, ist die Selbsterkenntnis. So weist Boethius darauf hin, dass die humanae naturae condicio (De consolatione philosophiae II 5) nur dann alles übrige überragt, wenn sie sich selbst erkennt, jedoch unter die Tiere herabsinkt und hinter die Dinge zurücksinkt, wenn sie aufhört, sich zu erkennen.[2] Selbsterkenntnis im Sinne der Erkenntnis der Bestimmung des Menschen ist wie bei Cicero die Voraussetzung zur Erfüllung der Menschenwürde.

Auch das christliche Denken verbindet mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit den biblischen Kultur- und Schöpfungsauftrag des Menschen, so dass Würde als eine verpflichtende Gabe Gottes gesehen wird. Bernhard von Clairveaux spricht gar von einer infructuosa dignitas (De diligendo Deo 2) dann, wenn die besondere Auszeichnung des Menschen nicht in ein adäquates Handeln umschlägt. Auch für den Renaissancedenker Manetti wird die Würde des Menschen nicht primär als die Erlaubnis zur Herrschaft über die Welt, sondern als Pflicht gedeutet, das Leben auf Erden würdig für alle, mithin gerecht zu gestalten (De dignitate et excellentia hominis 3, 51). C. F. Gellert (1839, Vorlesung Okt. 1767) betont, „die wahre Würde des Menschen“ bestehe „in der genauen Beobachtung seiner Pflichten“, denn „die Tugend“ sei „die wahre Würde.“

Am deutlichsten hat Immanuel Kant den moralischen (Selbst-) Verpflichtungscharakter der inhärenten Würde hervorgehoben und systematisiert. Dabei ist die in der sittlichen Autonomie gründende Würde des Menschen nicht nur der Grund einer moralischen Verpflichtung gegen andere, sondern vor allem auch eine Pflicht gegen sich selbst – eine Perspektive, die nicht erst heute gerne zu vergessen werden pflegt.[3] Dieser Selbstverpflichtungscharakter der Würde besteht nach Kant darin, ein Bewusstsein der Würde der eigenen Person aufrechtzuerhalten, und sich nicht nur in seinen Handlungen überhaupt vom Sittengesetz leiten zu lassen und die Würde der anderen zu achten, sondern – im Sinne einer expressiven Würde im selbstreferentiell-moralischen Sinn – das eigene Selbstverhältnis unter der Pflicht zur „Selbstschätzung“ oder „Selbstachtung“ zu gestalten und sich mithin selbst als Person anzuerkennen und zu achten. Noch vor den Pflichten „gegen andere“ nehmen daher, folgt man der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten“ (MS AA VI, 373-493) – die „Pflichten gegen sich selbst“, die gleichsam die personale Seite der Würde ausmachen, einen breiten Raum ein.[4] Die Pflichten gegen sich selbst, deren Verletzung wie bei allen Tugendpflichten im Gegensatz zu den Rechtspflichten kein Zwangsrecht korrespondiert und die daher auch für eine äußere Gesetzgebung untauglich sind,[5] bestehen darin, „dass der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt, und seine Pflicht ist es, diese Würde der Menschheit in seiner eignen Person nicht zu verleugnen.“ Die Pflicht gegen sich besteht mithin „darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eignen Person bewahre“ (Pädagogik AA IX, 489). Die Voraussetzung dafür (das „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“) besteht dabei – ganz in der Tradition Ciceros – in der moralischen Selbsterkenntnis[6]. Näherhin lassen sich die „Pflichten gegen sich selbst“ in „vollkommene“ und „unvollkommene unterteilen:

  • 1. Die vollkommenen (strikten) Pflichten gegen sich selbst

Vollkommene (strikte) Pflichten fordern direkt, ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Zweck, bestimmte Handlungen. Sie lassen für ihre Erfüllung keinen Spielraum, mithin keine Ausnahmen zu und sind daher unbedingte (negative) Unterlassungspflichten[7], denen ein striktes Verbot korrespondiert. Als solche verbieten sie kategorisch bestimmte Handlungen, nämlich – wie im Fall der Pflichten gegen sich selbst – solche der Selbstzerstörung des Menschen als eines animalischen bzw. als eines moralischen Wesens. Unter die „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als ein animalisches Wesen“ (MS AA VI, 421) fällt das Verbot der Selbstentleibung (Selbstmord), der wollüstigen Selbstschändung (unnatürlicher Gebrauch der Geschlechtsneigung) und der Selbstbetäubung („der das Vermögen zum zweckmäßigen Gebrauch seiner Kräfte schwächende unmäßige Genuss der Nahrungsmittel“; ebd. 420). Die „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als ein moralisches Wesen“ besteht „im Formalen der Übereinstimmung der Maximen seines Willens mit der Würde der Menschheit in seiner Person; also im Verbot, dass er sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d. i. der inneren Freiheit, nicht beraube und dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache, mache.“ (ebd.) Die Laster, welche dieser Pflicht entgegen stehen, sind: die Lüge, der Geiz („die Verengung seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das Maß des wahren eigenen Bedürfnisses“, ebd. 432) und die falsche Demut (Kriecherei). „Diese nehmen sich Grundsätze, welche ihrem Charakter als moralischer Wesen, d. i. der inneren Freiheit, der angebornen Würde des Menschen, geradezu (schon der Form nach) widersprechen, welches so viel sagt: sie machen sich es zum Grundsatz, keinen Grundsatz und so auch keinen Charakter zu haben, d. i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu machen. – Die Tugend, welche allen diesen Lastern entgegen steht, könnte die Ehrliebe (honestas interna, iustum sui aestimum), eine von der Ehrbegierde (ambitio) (welche auch sehr niederträchtig sein kann) himmelweit unterschiedene Denkungsart, genannt werden […]“ (ebd. 420). Der Grundsatz für alle vollkommenen Pflichten gegen sich selbst lautet: „lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur“ (ebd. 419). Die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst sind auch insofern von besonderer Bedeutung, als alle Rechtspflichten anderer mir gegenüber meine eigene, wie Kant sich ausgedrückt hat, „innere (nicht äußerlich erzwingbare) Rechtspflicht“ gegen mich selbst[8] logisch voraussetzen: Wie sollten andere mein Menschenrecht zu achten verpflichtet sein, wenn ich selbst das ‚Recht der Menschheit in mir‘ (wie es dann heißt) missachten dürfte, etwa indem ich mich selbst zum bloßen Mittel eines anderen machte, oder indem ich meine körperliche Unversehrtheit zu einem beliebigen Zweck – etwa meiner Ehr- oder Gewinnsucht – aufs Spiel setzte? Die Erhaltung der naturalen und moralischen ‚Natur’ des Menschen ist zudem die Bedingung der Möglichkeit dafür, diese naturalen wie moralischen Vorgaben in Freiheit überhaupt zu entfalten und zu vervollkommnen. Auch diese Vervollkommnung ist eine Tugendpflicht gegen sich selbst, wenn auch eine unvollkommene.

  • 2. Die unvollkommenen (weiten) Pflichten des Menschen gegen sich selbst

Die unvollkommenen (weiten) Pflichten des Menschen gegen sich selbst fordern direkt bestimmte Maximen für Handlungen und nur indirekt unbestimmte Handlungen. Sie lassen deswegen für ihre Erfüllung einen Spielraum zu und bilden die Tugendpflichten gegen sich selbst im eigentlichen Sinn. Ihr Grundsatz lautet: „mache dich vollkommener, als die bloße Natur dich schuf (perfice te ut finem; perfice te ut medium)“ (MS AA VI, 419) Sie bestehen für den Menschen zum einen in der „Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit“ (ebd.). Denn so Kant: „Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ (ebd. 444)[9] Des Weiteren umfassen sie auch die „Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit“ (ebd. 446). Genauerhin besteht diese „in der Lauterkeit (puritas moralis) der Pflichtgesinnung“, d. h. im Handeln bloß aus Pflicht („Seid heilig!“ ist hier das Gebot) und im permanenten Streben nach moralischer Vervollkommnung („Seid vollkommen!“) (ebd.).

Mit den moralischen Pflichten gegen sich selbst, die einerseits die Ausbildung bzw. die „Kultur aller Vermögen überhaupt zur Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke“ und andererseits die „Kultur der Moralität in uns“ (MS AA VI, 391f.) umfassen, ist die personale Seite der normativen Konsequenz des Würdegedankens abgedeckt. Es gibt aber auch eine sozialmoralische Seite des Würdegedankens, die Kant unter dem Begriff der moralischen „Pflichten gegen andere“ abhandelt. Diese unterteilt Kant in positive Liebespflichten, die gebieten, die Zwecke anderer zu den eigenen zu machen, und in negative Achtungspflichten[10]:

  • 3. Moralische Pflichten gegen andere: Positive Liebespflichten und negative Achtungspflichten

Die positive Liebespflicht, von Kant auch Pflicht zur Nächstenliebe, des Wohlwollens oder der „praktischen Menschenliebe“ (MS AA VI, 450) genannt, erfordert, die Zwecke anderer „so fern diese nur nicht unsittlich sind“ zu den meinen zu machen. „[…] die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander, man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst.“ (ebd.) Wichtig dabei ist, dass das geforderte Wohlwollen nicht nur ein Gefühl der Zuneigung ist oder „ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes anderen […], sondern ein tätiges, praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des Anderen zum Zweck zu machen“ (ebd. 452) im Sinne des aktiven Wohltuns. Kant teilt die Liebespflichten ein in Pflichten der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der mitleidenden Teilnehmung (sympathia moralis) bzw. der praktischen Humanität (humanitas) (ebd. 456).

Wir sind allen Menschen gegenüber aber nicht nur zu einer Einstellung der Liebe verpflichtet, mithin zu hilfsbereitem, dankbaren und teilnehmenden Wohlwollen, sondern auch zu der ihnen als Menschen gebührenden Achtung. Die Pflicht zur Achtung gegenüber den anderen ist „in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der Andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu frönen)“ (MS AA VI, 450). Achtung ist eine „Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne (observantia aliis praestanda)“ (ebd. 449). Sie ist „die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Werthschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte“ (ebd. 462). Auf Achtung haben die Menschen einen wechselseitigen Anspruch.[11] Ihre Unterlassung ist nicht nur – wie bei den Liebespflichten – „Untugend (peccatum)“, sondern „Laster (vitium). Denn durch die Verabsäumung der ersteren wird kein Mensch beleidigt; durch die Unterlassung aber der zweiten geschieht dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruchs“ (ebd. 464). Als solche Laster, die gegen die Pflicht zur Achtung verstoßen, nennt Kant den Hochmut, die üble Nachrede und die Verhöhnung.

Die Tugendpflichten („officia virtutis s.[ive] Ethica“, MS AA VI, 239) gehören in den Bereich der Moral, der inneren Gesinnung und der strikt moralischen Motivation. Sie obliegen der sittlichen Selbstvervollkommnung des Menschen und gliedern sich – wie gezeigt – in zwei Teile auf Grund der Unterscheidung der zwei „Zwecke, die an sich Pflichten sind“: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit.[12] Ihre Verbindlichkeit ist – sieht man von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst ab – weit insofern, als sich Tugendpflichten nur in allgemeinen Grundsätzen (Maximen) bestimmen lassen, die vielfältige Möglichkeiten der Erfüllung eröffnen.[13] Denn es sind viele Möglichkeiten vorstellbar, mein Vermögen zu kultivieren oder hilfsbereit zu sein. Gerade wegen dieser Pluriformität der Erfüllungsmöglichkeiten wie auch der personalen wie situativen Kontexte, die diese Erfüllungsmöglichkeiten bedingen, bleibt der Bereich der Tugendpflichten, in dem individuelle wie kulturelle Vorstellungen des guten und gelingenden Lebens bzw. je individuelle Glücksvorstellungen eine Rolle spielen, eine Angelegenheit der subjektiven Freiheitsspielräume, mithin eine Privatsache. Denn es gilt: Jeder kann nach seiner Facon glücklich werden – freilich hat er auch die moralische Last, die sich aus einem Verstoß gegen die Tugendpflichten ergeben, selbst zu schultern und mit seinem Gewissen auszumachen. Und da die Erlangung der Tugend neben der Selbsterkenntnis auch „Herrschaft über sich selbst“ (MS AA VI, 407) und „Apathie (als Stärke betrachtet)“ (ebd. 408) notwendig zur Bedingung hat, der Konstitution des Menschen als sinnlich-geistiges Doppelwesen nach die Person nicht nur unter dem Anspruch des Sittengesetzes steht, sondern auch Neigungen, Trieben und Stimmungen ausgesetzt ist, braucht man kein Misanthrop zu sein, um voraussagen zu können, dass der Einzelne nicht immer gemäß den Tugendpflichten moralisch gut handeln wird. Solange der Handlungsverursacher alleine die moralischen Folgen seiner Handlungen tragen muss – wie bei den Pflichten gegen sich selbst –, bleibt die Moralität einer Handlung tatsächlich eine Sache allein der Verantwortung des Handelnden, selbst wenn er gegen die „Menschheit in seiner Person“ verstößt.

Anders stellt sich jedoch das Verantwortungsverhältnis dar, wenn ein Verstoß gegen die Tugendpflichten gegen andere vorliegt, mithin primär moralische Mitsubjekte die Konsequenzen des Handelns zu tragen haben. Zwar gilt auch noch bei Kant grundsätzlich die Grundthese der aristotelischen Tugendethik, dass jede Handlung, soweit sie moralisch relevant ist, immer eine actio immanens ist, d. h. moralische Folgen für den Verursacher der Handlung hat, mithin der Handelnde im Umgang mit den anderen immer auch ein hohes Eigeninteresse an der moralisch guten Qualität seiner Handlung haben muss. Aber es kann nicht angehen, das basale Wohlergehen der anderen alleine von der Einsicht in die Notwendigkeit dieses Eigeninteresses abhängig zu machen und der Unsicherheit und Unbestimmtheit des Gelingens oder Misslingens des moralischen Selbstverhältnisses von Individuen auszusetzen. Neben den Tugendpflichten führt Kant daher einen zweiten Typ von Pflichten ein, die sog. Rechtspflichten (officia iuris), die zusätzlich zu einer moralischen Beurteilung von Handlungen auch einer äußeren Gesetzgebung unterworfen sind.[14] Solche Pflichten haben bei Kant ihren Namen nicht daher, dass sie die Einhaltung des positiven Rechts, das sich eine politische Gemeinschaft gibt bzw. das aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht, zur Pflicht machen. Sondern Rechtspflichten beziehen sich über die ‚empirische Rechtspraxis’ hinaus auf jene Rechte, die jedem Menschen aufgrund seiner Würde noch vor allen konkreten, historisch begegnenden Einzelrechten zukommen, die daher auch als ‚natürliches Recht’ jeder positiven Rechtssetzung als anzuerkennende und nicht als zuzuerkennende Grundrechte der Person vorausgehen.[15] Die Rechtspflichten in diesem Sinne, die „auf lauter Prinzipien apriori“ beruhen (MS AA VI, 237) und ‚von Natur aus’ angeborene Rechte zum Gegenstand haben, beziehen sich, so Kant, auf „das Recht, was zum apriori entworfenen System gehört“ (ebd. 205f.). Sie bilden den Kern des später formulierten Menschenrechtsgedankens.

[1] „nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere“ (Cicero, De natura deorum 2, 1, 152).

[2] „genus humanum terrenis omnibus praestare voluit, vos dignitatem vestram infra infima quaeque detruditis […] Humanum quippe naturae ista condicio est.“ (Boethius, De consolatione philosophiae 2, 5)

[3] Bereits Kant beklagte sich in seiner Pädagogik (hrsg. 1803): „Viele haben den Abschnitt der Moral, der die Lehre von den Pflichten gegen sich selbst enthält, ganz übersehen oder falsch erklärt […]“ (AA IX, 489).

[4] Zur Interpretation der Kantischen Lehre von den Tugendpflichten siehe J. Ebbinghaus 1988, V. Durán Casas 1996, O. O’Neill 1996 und neuerdings M. Baum 1998 und M. Forkl 2001.

[5] Ein Verstoß gegen Tugendpflichten verletzt keine Rechte anderer Menschen, sondern das Recht der Menschheit in der eigenen Person. Tugendpflichten gehören daher als Gewissensfragen in die Ethik und nicht in das Recht.

[6] „Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz, – ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag.“ (MS AA VI, 441).

[7] Vgl. MS AA VI, 419.

[8] Vgl. AA XXIII 276, 36 u. 390, 28 f. sowie AA XXVII 2/1, 592, 25f.

[9] Denn der Mensch ist „es sich selbst (als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern, gesetzt dass er auch mit dem angebornen Maß seines Vermögens für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden sein könne, so muss ihm doch seine Vernunft dieses Zufriedensein mit dem geringen Maß seiner Vermögen erst durch Grundsätze anweisen, weil er als ein Wesen, das der Zwecke (sich Gegenstände zum Zweck zu machen) fähig ist, den Gebrauch seiner Kräfte nicht bloß dem Instinkt der Natur, sondern der Freiheit, mit der er dieses Maß bestimmt, zu verdanken haben muss. […] Es ist also […] Gebot der moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen sich selbst, seine Vermögen (unter denselben eins mehr als das andere nach Verschiedenheit seiner Zwecke) anzubauen und in pragmatischer Rücksicht ein dem Zweck seines Daseins angemessener Mensch zu sein.“ (MS AA VI, 445)

[10] Der Vollständigkeit halber, aber ohne dieses Zweierschema aufzuheben, sind, folgt man Kant, zudem besondere situationsbezogene Pflichten gegeneinander in Ansehung des besonderen Zustandes von Menschen, also etwa gegenüber Kindern, Alten, Kranken, Armen etc. (vgl. MS AA VI, 468) zu beachten.

[11] „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.“ (MS AA VI, 462)

[12] Vgl. MS AA VI, 379-387.

[13] „[…] denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ist’s ein Zeichen, dass es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle. – Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der Tat das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird. – Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung.“ (MS AA VI, 390)

[14] „Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist; – die letztern können aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Akt des Gemüts ist); obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch dass das Subjekt sie sich zum Zweck macht.“ (MS AA VI, 239) – Die Unterscheidung von Tugend- und Rechtspflichten findet sich der Sache nach schon bei Aristoteles und Thomas von Aquin. Zum Verhältnis von Recht und Moral, Legalität und Moralität vgl. O. Höffe 1979b und S. Seubert 1999.

[15] „Überhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müsste doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete.“ (MS AA VI, 224)

 

 

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