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0. EINFÜHRUNG

Kairos – so nannten die Schriftsteller und Philosophen des antiken Griechenlands einen besonderen, einen geglückten, einen richtigen und angemessenen, ja einen lebensverändernden Moment, ja eine einmalig günstige Gelegenheit, die es unbedingt zu ergreifen galt, damit sie nicht ungenutzt vorbeigehe.

Die Griechen machten aus dem Kairos – wenn auch spät – sogar einen Gott mit Glatze und einem Schopf an der Stirn, um den richtigen Moment, die occasio (so später die Lateiner), die günstige Gelegenheit gleichsam beim Schopfe packen zu können – oder eben nicht, dann rutschte die Hand über den blanken Schädel ins Nichts einer eben vertanen Chance. In der Hand hält Kairos auf Messers Schneide eine Waage, denn der Kairos ist der alles entscheidende Moment, den es gut überlegt zu ergreifen gilt.

Die Vorstellung eines richtigen Augenblicks, eines alles entscheidenden Moments, hat seitdem viele Übersetzungen und ebenso viele Deutungen erhalten.

Insbesondere heute tritt der Gott Kairos in vielen Verkleidungen auf: als Liebe auf den ersten Blick; als berufliche Chance, die alles verändert; als einschneidendes Erlebnis, das dem Leben eine andere Bahn verleiht oder als glückliches Zusammentreffen von Umständen und Personen. Aber auch viel banaler: als Okkasion für den Schnäppchenjäger, der – selbst um den Preis der Nutzlosigkeit – unbedingt dem Schnäppchen am Black Friday bei Ebay oder Amazon hinterherjagt. Denn Gelegenheiten darf man auf keinen Fall versäumen. Das wäre Sünde und Schande. Die Werbung weiß dies und erschafft kontinuierlich neue, vermeintlich besonders günstige Gelegenheiten, und droht mit deren Vorbeigang.  

Stets steckt dahinter die gleiche Sehnsucht: dass man einmal zugreifen und das volle Leben erwischen kann, in diesem günstigen Augenblick, in dem sich das Universum oder Gott oder die Gesellschaft oder auch nur Amazon und Ebay mit dem Ich verbünden. Es ist der eine Moment, von dem an alles anders und alles gut wird – zumindest bis die nächste Gelegenheit auftaucht.

Zum Jahreswechsel wird die Sehnsucht in Form von Vorsätzen kultiviert: Neujahr ist der erste Tag eines neuen Lebens. Aus unerfindlichem Grund halten zeitgleich Millionen von Menschen genau diesen Tag für eine gute Gelegenheit, dem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Skeptiker halten ihn für den Beginn eines Massensterbens guter Absichten.

Doch lässt sich bestimmen, wann Gelegenheiten gute sind? Woran erkennt man sie? Und kann man sich auf sie vorbereiten, muss man es gar? Sind sie ein Geschenk, oder erfordern sie eine Anstrengung? Kann man den Kairos anstreben, oder fällt er einem zu? Oder sind kairotische Momente viel zu flüchtig, zufällig und selten, um irgendetwas über sie sagen zu können?

Wenn sie denn selten sind. Daran haben Kognitionsforscher inzwischen Zweifel. Sie haben in unser Hirn geschaut und dort eine Kairos-Maschine entdeckt. Denn wir machen aus allem einen Kairos, besonders im Nachhinein. Und wir machen alles für einen Kairos. Besonders im eigenen Leben.

Denn große Momente sind die wichtigste Droge unseres Hirns. Und unser Gedächtnis ist der Dealer. Es dient nicht dazu, die Vergangenheit wie ein Video abzuspulen, sondern uns mit Sinn zu füttern. Und den verankern wir am liebsten in besonderen Augenblicken. Dafür allerdings müssen wir unser Leben tagtäglich neu schreiben und das Geschriebene überarbeiten.

Zunächst kürzen wir unsere Autobiografie auf handliches Format und löschen alles, was durch Dauer und Gleichmäßigkeit langweilt. Lange Jahre der Zufriedenheit – in unserer Erinnerung schnurren sie zu einem Moment zusammen; duration neglect nennt das der Kognitionsforscher und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, die Missachtung des Dauerhaften und Beständigen. Statt Verlauf zählen Höhe- und Endpunkte. Unseren Urlaub oder unsere Ferien, beispielsweise, beurteilen wir sehr schlicht nach dem tollsten und dem letzten Moment – das Gedächtnis ist der Sensationsjournalist, der unser Leben zum Scoop hochjubelt.

Haben wir unser Leben so weit eingedampft, beginnt der kreative Part: Nun pumpen wir die Momente mit Bedeutung auf, um uns im Hier und Jetzt wohler zu fühlen. Meistens machen wir uns schlauer und besser, als wir je waren. Wir “erinnern” uns, dass wir einschneidende Ereignisse (Finanzkrise, berufliche Wendepunkte, Flüchtlingskrise) vorhergesagt haben, unsere Schulnoten steigen im Laufe der Zeit, und üblicherweise halten wir Erfolge für unser Werk, weil wir den Kairos, den richtigen Moment am Schopf gepackt haben. Fehlschläge freilich rechnen wir den Umständen zu.

Dass dem so ist, ist in zweierlei Hinsicht unschön. Zum einen sät es Zweifel in jede Geschichte – auch die eigene. Denn eine frisierte Erinnerung ist von einer echten nicht zu unterscheiden. Zum anderen hilft uns die mentale Kairos-Überproduktion überhaupt nicht bei zukünftigen Gelegenheiten. Wie wir uns vorzubereiten haben, um sie zu ergreifen, darüber schweigt unser Hirn.

Offensichtlich sind wir von Hause aus orientierungslos im Fluss der Zeit, weil uns alles gleichgültig und gleich wertlos ist! Und wem nichts mehr auf Dauer wertvoll ist, dem bleibt nichts anderes übrig, als zum Opportunisten der Gelegenheit zu werden, egal welcher, Hauptsache sie erscheint als günstig mit Blick auf was auch immer. Der postmoderne Mensch, sollte es ihn geben, muss notwendig zum Schnäppchenjäger von Occasionen werden, denn ein dauerhaftes Wahres, Schönes und Gutes gibt es nicht mehr. Und gerade weil nichts dauerhaft Wertvolles existiert, sucht man das Wertvolle im kairotisch Momentanen selbst, gleichsam im Augenblick – und zwar um seiner selbst willen, weil man hofft, darin etwas Authentisches, Ursprüngliches, Unmittelbares, Selbstevidentes zu finden. Doch im Eintauchen in den Flow und den Taumel der kairotischen Momente verliert der Mensch das eigentliche und dauerhafte Projekt seines Lebens aus den Augen: nämlich sich selbst. Denn – wie ich zu zeigen versuche – er selbst ist nicht nur die eigentliche Konstante des Suchens, sondern auch das Gesuchte selbst.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie vermuten es schon: Diese einleitenden, eher abschreckenden Vorstellungen vom Kairos, vom günstigen Moment und den vielen günstigen Gelegenheiten, zwischen denen ich auf dem Meer der Meinungen herumgesegelt bin, karikieren bestenfalls eine seriöse philosophische Beschäftigung mit dem Thema „Lebenskunst im Hier und Jetzt“. Um dieser Misere abzuhelfen, lassen sie uns  – Platon folgen, der die Aufgabe der Philosophie darin sah, gleichsam ein zweites Mal auf die offene See der Ideen und Gedanken hinauszufahren – bei dieser zweiten Ausfahrt mit den Augen der Vernunft auf die Idee des Kairos schauen. Die zweite Ausfahrt ist immer anstrengender und anspruchsvoller als die erste – ich werde ihre Aufmerksamkeit also strapazieren müssen.

Ich tue dies in drei Schritten:

Wir werden uns in einem ersten Schritt mit der Deutung des Kairos in der griechischen Literatur und der griechischen Philosophie bis hin zur Aristoteles beschäftigen, um das damit Gemeinte von seinem geschichtlichen Ursprung her besser verstehen zu können. Mit Aristoteles ist die Verortung des Kairos-Gedankens in der Philosophie, insbesondere innerhalb der praktischen Philosophie bzw. der Ethik abgeschlossen.

Aristoteles Vorstellung von der menschlichen Praxis als dem angemessenen Ort des Kairos weiterdenkend werden wir uns daher in einem zweiten Schritt mit der Geschichtlichkeit des Menschen beschäftigen müssen, insbesondere mit der Rolle, die Entscheidungen, vor allem kairotische Grundentscheidungen darin spielen. Denn erst diese verleihen dem Leben des Individuums allererst Identität und Kontur, ja machen das Individuum als Person für andere identifizierbar.

Dabei wird der Mensch nur, insofern er ein handelnder ist, zu seinem eigenen Projekt. Ansonsten blieben seine kairotischen Entscheidungen leer und im unverbindlich Abstrakten. Das ist der Kairos der Praxis. Denn nur durch seine Praxis, mit der er immer schon risikoreich verstrickt ist im „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, so Hannah Arendt, gewinnt er seine unverwechselbare Identität und wird für sich und andere identifizierbar. Dies werden wir in einem dritten Schritt zum Gegenstand machen.

1. Die Deutung des Kairos in der griechischen Literatur und Philosophie bis Aristoteles

Beginnen wir – wie angekündigt – mit einem ersten historischen Abschnitt: der Deutung des Kairos in der griechischen Literatur und Philosophie bis Aristoteles.

1.1 Der etymologische Befund: Drei Bedeutungen des Kairos

Über den ursprünglichen Wortsinn von Kairos ist offenbar mit etymologischen Untersuchungen, die zu recht verschiedenen Ergebnissen geführt haben, keine Sicherheit zu gewinnen; doch lässt sich an Hand der sprachlichen Entwicklungslinie immerhin eine Grundbedeutung von Kairos herausstellen: Kairos meint das Entscheidende, den wesentlichen Punkt, und zwar erstens örtlich bzw. räumlich (als der richtige Ort), zweitens sachlich (als das rechte Maß) und drittens zeitlich (als die geeignete Zeit) verstanden.

1.1.1 Kairos als der richtige Ort bzw. das räumliche Ziel (καίριος – καῖρος)

Der räumliche Sinn von Kairos scheint der älteste zu sein. So steht Kairos in Verbindung mit zwei ähnlichen Wörtern aus der homerischen und nachhomerischen Dichtung, nämlich καίριος (am rechten Orte eintreffend, entscheidend, tödlich/zur rechten Zeit eintreffend, gelegen) und καῖρος (das räumiche Ziel). Ausgangspunkt dieser Argumentation ist die Tragödie Agamemnon von Aischylos, wo καιρός offenbar die Bedeutung von Ziel, Markierung annimmt. Man kann mit dem Bogen das entscheidende räumliche Ziel (Kairos) treffen oder über den καιρός hinaus zielen. καιρός wird daher bei Euripides auch auf jenen Teil des menschlichen Körpers bezogen, wo der Mensch durch eine Waffe am tödlichsten verwundbar ist. In Homers Ilias und Odyssee bezeichnet das Wort καίριος nicht nur die Körperteile, wo eine Waffe am leichtesten eindringen kann, sondern auch die Gegenstände, worauf Bogenschützen mit ihren Bögen am liebsten zielen. Dabei stellten die Bogenschützen ihre Stärke und Präzision besonders dadurch unter Beweis, dass es ihnen gelang, durch viele in einer Reihe gestellte Löcher zu schießen. Diese Figur verleiht Kairos die spätere Bedeutung von Gelegenheit, Genauigkeit, richtiges Maß: eine Öffnung ist nämlich eine Chance, die genau so schwierig zu nützen ist, wie es schwierig ist, einen Pfeil durch viele Löcher zu schießen.

1.1.2 Kairos als die entscheidende/günstige Zeit (κείρω – κρίνειν – κρίςις – κριτέρiον) und als Krise des Chronos

Kairos ist – so eine zweite Herleitung – über κείρω (abschneiden, scheren, aber auch: morden) mit κρίνειν verwandt. Das heißt scheiden, trennen, unterscheiden, ordnen, aber auch entscheiden, ein Urteil fällen. Das Substantiv dazu heißt κρίςις. Die κρίςις ist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines Wettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann heißt κρίςις Gericht. Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit, ein Einschnitt in der Zeit. Im Kairos werden mithin auch die Zeiten (Vergangenheit und Zukunft) unterschieden.

Dadurch, dass Kairos die Mitte der Zeiten ist, wird er zum Maß (metrion) der Zeit. Eine Zeit dauert von kairos zu kairos bzw. von krisis zu krisis. Die Krisis gibt das kriterion der Zeit ab.

Kairos steht damit in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum Chronos als Zeitfluss:

Quantitatives Zeitverständnis Qualitatives Zeitverständnis
Ununterbrochener Zeitfluss Unterbrechung des Zeitflusses
(außerhalb der Zeit, die Zeit steht still, das Nicht-Zeitliche, das Ewige bricht ein)
gemessen in Minuten gemessen in Momenten und Augenblicken
exakt bestimmbar (eine Minute ist eine Minute) Momente variieren (Vielfalt)
ist endlich (eingeteilt ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft)ist unendlich (ewig) und präsentisch
Zeit, die wir verbrauchen Zeit, die uns verbraucht
sequentiellsaisonal
eine alltägliche Realitäteine einmalige herausgehobene Gelegenheit (lat. occasio)
Personifizierung: alter Mann (mit Sense und Stundenglas)Personifizierung: junger Mann (geschmeidig und gutaussehend)
Bild: UhrBild: Fenster
1.1.3 Kairos als das rechte Maß (μέτρον)

Dieser Kairos, als Krise des Chronos, ist das Maß der Zeit, im Sinne von Kriterion und Metrion: Er mißt die Zeitspanne, ist das Maß und daher selbst nicht meßbar. Daher hat der Kairos für die Griechen nicht nur praktische, sondern auch ästhetische, ja insbesondere auch eine kosmologische und metaphysische Bedeutung: Als Maß erzeugt der Kairos Symmetrie, Schönheit, Ordnung, Zusammenstimmen der Teile, Harmonia. Wie der richtige, der goldene Schnitt in der Proportion nicht meßbar, berechenbar ist, so ist der Schnitt in der Zeit auch unberechenbar. Er ist als Maß der Zeit selbst nicht in der Zeit, sondern überzeitlich.

In der nachhomerischen älteren Dichtung kommt καιρός daher zumeist als Maßbegriff vor. Ihm entspricht die beständige Forderung, Maß zu halten, was eine ontologische Vorherrschaft des Kairos voraussetzt. Mit Erlaubnis von Protagoras könnte man sagen: καιρός ist das Maß aller Dinge. Denn alles, was nach dem καιρός ausgerichtet ist, ist auch schön, symmetrisch, harmonisch. Das Fehlen von καιρός deutet dagegen auf Hässlichkeit hin. Kairos, so schon Hesiod im 8. Jahrhundert, ist das beste Maß für alles. Er empfiehlt in seiner Theogonie, in jeder Handlung den καιρός zu suchen. Diese Idee durchdrang die ganze altgriechische Literatur. Es wird empfohlen, vernünftig und ausgeglichen zu sein (εὐκόσμως, 628), bei jeder Entscheidung und Situation Maß zu halten, die rechte Zeit (ὥρη 630, 642, 665) zu finden, das rechte Maß (μέτρον 648, 694) zu halten und die rechte Wahl (καιρός 694) zu treffen – so die basalen Handlungskriterien für den Menschen. Hier merken sie schon: Kairos ist die Zeit der Wahl und der Entscheidung, die gleichsam auf Messers Schneide steht!

Zwei Jahrhunderte nach Hesiod nimmt καιρός bei Pindar (518 bis etwa 438) eine neue, originelle Bedeutung an. Kairos bezeichnet nun das richtige Maß im Bereich der Rhetorik und der Poetik, d. h. die Fähigkeit, Gedanken und Ereignisse durch die Regel der Metrik richtig auszudrücken.  Bei den Pythagoreern, die in der Natur das Vorhandensein von Gesetzen und Zusammenhängen, die sich wiederholen, erkennen und diese durch Zahlenverhältnisse ausdrücken, trägt Kairos als Eigenschaft der Zahlen mit Seele (ψυχη), Vernunft (νοῦς) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), zum Aufbau der kosmischen Harmonie bei.

1.2 Verbindung der drei Bedeutungen in Rhetorik und Medizin (Gorgias – Corpus Hippocraticum)

In der Rhetorik und der Medizin gehen die räumliche, die sächliche und die zeitliche Komponente der Kairosvorstellung eine enge Verbindung ein. So erhebt Gorgias den Kairos zu einem wichtigen Topos der Rhetorik. Der Kairos wird zur Norm einer auf das Interesse des Augenblicks gerichteten Überredungstechnik. Kairos wird aber auch zu einem Zentralbegriff für die Medizin; dafür spricht die Häufigkeit, mit der das Wort im Corpus Hippocraticum vorkommt. Denn jeder Fall ist einzigartig, jeder Patient reagiert auf eine ganz verschiedene Weise auf Medikamente und Behandlungen. Kairos in der Medizin meint die Fähigkeit, den richtigen Augenblick zu erkennen und ihn zu ergreifen, das richtige Maß an den zu verabreichenden Medikamenten und die richtige Zeit für die Behandlung einer Krankheit zu wählen sowie den genauen Eingriffsort zu kennen. Durch den Kairos-Begriff gelingt es mithin Hippokrates, die variablen Elemente der medizinischen Praxis auszudrücken.

1.3 Die mystische Komponente: die Entstehung des Kultus des Kairos

Wenn es auf den Kairos räumlich, sächlich und zeitlich ankommt, wenn der ganze Kosmos und alle menschlichen Angelegenheiten auf ihn angewiesen sind, so dass Kairos auch als ein kosmologisches, ja mystisches Prinzip gesehen werden kann, dann ist die Entstehung eines Kultus des Kairos nicht verwunderlich. Dieser Kultus knüpft sich an einen Altar in Olympia, der am Eingang des Stadions lag und für dessen Einweihung der Dichter Ion von Chios (5. Jh. v. Chr.) eine Hymne schrieb (Paus. 5, 14, 9). Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, ist nicht wie Nike, Eirene und Plutos eine urmythische Gottheit. Seine Entstehung erfolgte durch die Personifizierung und Vergöttlichung einer Idee, in diesem Fall der Vorstellung, dass es den Wettbewerbern nur dann der olympische Sieg gelingen würde, wenn sie die günstige Gelegenheit packen würden.

1.4 Relativierung des Kairos zur bloßen Gelegenheit in der Sophistik (Protagoras – Gorgias – Isokrates)

Die griechische Antike kennt nicht nur die Vergöttlichung des Kairos, sondern auch seine vollständige Entgöttlichung und Depotenzierung. Denn, so die Sophisten, nicht der von den Göttern geschenkte Kairos, sondern der Mensch ist das Maß aller Dinge: „anthropos metron hapaton“, so der berühmte homo-mensura-Satz des Protagoras. Damit wird der Mensch maßgebend für alles und rückt ins Zentrum des Universums: die Wirklichkeit hat keinen anderen Sinn als jenen, den ihr der Mensch beimisst. Jede Sache kann daher durch die kreative Überzeugungskraft des menschlichen  Logos radikal geändert werden. Der Sophist Gorgias nennt den Logos daher auch „Betrüger“. Wenn aber die Welt nur mehr Projektion und Konstrukt der menschlichen Vernunft ist, dann kann es auch keinen Kairos mehr geben, der das zeitlich, räumlich und sachlich Richtige treffen könnte. Denn nun ist alles beliebig, gleich wertvoll und gleich bedeutsam, eben ein bloßes Konstrukt zum Behufe der Interessen des Menschen. Was gerecht und ungerecht ist, wird daher – je nach Gelegenheit (Kairos), Situation und Nutzen – anders bestimmt, mithin beliebig.

Schon der Schüler des Gorgias, Isokrates (436-338 v. Chr.), hat den Sophisten vorgeworfen, die Bedeutung und die Tiefe des Kairos daher nicht begriffen zu haben. Dass sie nicht wussten, den richtigen Moment zu ergreifen, darin sah er den Grund all ihrer Versagen und ihrer Wirkungslosigkeit. Die Erziehung, so sein Gegenprogramm, müsse die Schüler daher befähigen, den richtigen Zeitpunkt (καιρός) durch den Verstand (φρόνησις) zu erkennen und zu ergreifen. Das Wort καιρός kommt ungefähr hundert Mal in den Schriften des Isokrates vor, was für die Bedeutung und das Interesse spricht, das Isokrates dem Kairos zumaß. Denn καιρός, so Isokrates, bedeutet Kreativität, verspricht Erfolg, ist Zeichen von Mäßigkeit und Kraft, nicht zuletzt im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Dieses Modell von παιδεία hat in der Geschichte als humanistisches Bildungsideal Schule gemacht.

1.5 Transsubjektiv-metaphysische Verankerung des Kairos bei Platon

Die sophistische These, dass der καιρός beliebig das Gerechte und das Ungerechte bestimme, wurde zur Zeit Platons von den Vielen (οἱ πολλοί) vertreten, was für den damaligen Erfolg der Sophisten und ihrer relativistischen Lehre spricht. Was diese selbst anbelangt, äußert sich Platon bündig und entschieden: sie ist falsch. Denn καιρός würde in diesem Fall bloße Unbestimmtheit und Beliebigkeit bedeuten. Außerdem dokumentiere sich in einem solchen Verständnis die Kapitulation der Erkenntnis vor der Unentzifferbarkeit des Realen. Bei Platon erhält der Kairos daher seine transsubjektive, auch die kosmologisch-metraphysische Verankerung zurück: In der metaphysisch unterbauten Ethik der Mesotes, der zufolge das richtige Handeln immer das Mittlere zwischen den Extremen ist, figuriert das kairion als Synonym von metrion, ikanon, teleon, d.h. als Inbegriff von Grenze, Vollkommenheit, Einheit und Glück, als das alle hiesige Angemessenheit ermöglichende Urmaß. Platon ist über die Möglichkeit, dass der Mensch Herr seines Selbst sei und den Kairos selbst bestimmen könne, zumindest skeptisch. Vielmehr ist es das Schicksal, das den richtigen Zeitpunkt, das richtige Maß und das der Situation Angemessene vorgibt: „Der Gott regiert alles, und mit ihm das Schicksal und der Kairos regieren alle menschlichen Sachen.“ (Nomoi 709c).

1.6 Kairos und Praxis bei Aristoteles

Ein Quantensprung in der Deutung des Kairos tut sich bei Aristoteles. Er verortet den Kairos innerhalb der praktischen Philosophie und der Ethik. Denn das Handeln des Menschen ist nicht durch ein deterministisches Paradigma im Flusse der Zeit erklärbar. Sondern der Mensch durchbricht im kritschen Augenblick der Entscheidung, die seinem konkreten Handeln vorausgeht, die Kette der Kausalität. Der Kairos der Entscheidung schafft mithin Raum für freies Handeln. Aber auch die Umsetzung der Entscheidung in konkretes Tun bedarf des Kairos: die Umstände, die den Erfolg der Handlung durch das Ergreifen der Mittel wesentlich mitbedingen, müssen stimmen. Die Situation muss günstig sein. Die Menschen sind daher im Handeln frei und für ihre Taten verantwortlich: das ist die Hauptbotschaft, die – folgt man Aristoteles – Kairos verkündet. Kairos ist also nicht nur der kritische Moment, in dem eine Handlung durch eine Entscheidung hervorgebracht wird, sondern auch Bedingung für das Gelingen dieser Handlung selbst. Ziel alles Handelns ist das Glück, die Eudaimonia, die darin besteht, dass der Handelnde so handelt, wie es seiner Natur, seinem Wesen als vernunftbegabtes Lebewesen entspricht.

Wir tun uns heute schwer, die essentialistischen Vorannahmen, die eine Rede von der Natur des Menschen leiten, noch nachvollziehen zu können. Dass die einmalige Existenz des Individuum an einer allgemeinen Natur des Menschseins Maß nehmen soll, ist uns heutigen allerdings nicht mehr plausibel. Ich will daher versuchen, ohne essentialistische Bezüge die Einsicht des Aristoteles aufgreifen, dass von Kairos immer nur im Kontext von freien Entscheidungen und der Praxis des Menschen gesprochen werden kann, und diese Einsicht mit Mitteln einer Existentiallogik der Entscheidung rekonstruieren.

2. Die Geschichtlichkeit des Menschen, seine kairotischen Entscheidungen und der Kairos der „optio fundamentalis“

Der radikale Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, der mit Marx, Nietzsche und auf christlicher Seite mit Sören Kierkegaard vollzogen ist, soll im Rahmen einer Philosophie der Praxis den Hintergrund abgeben für eine neue Sicht dessen, was mit Kairos heute gemeint sein könnte: denn Praxis wird nun wesentlich geschichtlich gefasst, d.h. als dem konkreten und singulären Werden des Subjekts unterworfen. Allgemein beginnt man, den Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu entdecken,  d.h.. als Subjekt, das sich in dem ständigen Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft aufhält, das von dem einen motiviert und auf das andere hingeordnet ist und in diesem Spannungsverhältnis seine kairotischen Entscheidungen trifft. Mit dem bereits erwähnten Sören Kierkegaard beginnt der Existentialismus, sich des konkreten Menschen anzunehmen. Schon bei ihm gilt, was Sartre später in Geltung für diese ganze philosophische Strömung formulieren wird: “DER MENSCH IST NICHTS ANDERES ALS WOZU ER SICH MACHT!” Denn nicht ein festes Wesen geht dem Individuum voraus, sondern er existiert zuerst und im Laufe seines Lebens erwirbt er sich gleichsam erst das, was ihn als Individuum wesenhaft kennzeichnet.

Im Gegensatz zur scholastischen und idealistischen Wesensphilosophie, die das Konkrete des Menschen aus dessen Wesen zu deduzieren unternimmt, wird sich das Individuum jetzt als das privilegierte Sein bewusst, das sich sein Wesen in der kontinuierlichen Abfolge von Entscheidungsvorgängen selbst setzt, das dadurch die Differenz zu sich selbst zu überwinden versucht, die es im Verlauf der individuellen Geschichte aufzuheben gilt.

Die Geschichtlichkeit des Menschen und die Notwendigkeit zur Entscheidung bedingen sich damit gegenseitig. Entscheidungen bilden die markanten Punkte, die die Geschichtlichkeit des Subjekts konstituieren. Erst die Entscheidung gegenüber den angebotenen Möglichkeiten der Zukunft erlaubt es, praktisch zu werden, d.h. eine Tat zu setzen, die allerdings auf den Menschen selbst wieder konditionierend zurückfällt.

In einem 2. Punkt ist sich die Lebensphilosophie (Dilthey, Nietzsche, Bergson) wie die Phänomenologie (Husserl, Scheler, Hartmann) als auch die Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers, Sartre) einig: Die sich aus Entscheidungen zusammensetzende Geschichtlichkeit des Menschen muss ein diese Einzelentscheidungen verbindendes Fundament besitzen, denn ansonsten wäre das Kairotische der Einzelentscheidung ein rein zufälliges, nicht selbst gestaltetes, mithin etwas Inkohärentes.

  • Für Kierkegaard z.B. ist die Authentizität der Existenz vom Entschluss zu einer Grundentscheidung abhängig, die tiefer als alle banalen Wahlen des täglichen Lebens greift und diese bestimmend überformt. Kierkegaard sieht eine solche Grundentscheidung in der Entscheidung zum Leben aus dem Glauben, die eine “Lebensanschauung“, “Lebensbetrachtung oder – wie er es ebenfalls nennt – „Weltanschauung” konstituiert.
  • Nietzsche sieht die Willenskraft als Ergebnis einer Struktuirierung von Unter-Willen, die erst in ihrer Überformung durch die Kraft des Wollens zu einem einheitlichen Strukturganzen menschlichen Lebens zusammenwachsen. Erst dieser herrschende Wille ermöglicht ein Kohärentwerden menschlicher Existenz.
  • Analoge Aussagen finden sich in Heideggers Ontologie der Existenz, Karl Jaspers Ontologie der Transzendenz, in der Philosophie Sartres, Gabriel Marcels, Bergsons und vor allem in Blondel. In seiner 1893 erschienenen Dissertation „L‘action“ („Die Tat“) erkennt er das menschliche Handeln als wesentlich konditioniert und zusammengehalten durch das, was er “optio fundamentalis“ nennt, ein Begriff, der von Thomas von Aquin in der quaestio 89 seiner summa theologiae zum ersten Mal auftaucht, 600 Jahre lang keine philosophische Behandlung mehr erfahren hatte und heute – zumeist im Kontext der Psychoanalyse und Moral – mit „Grund-” oder „Lebensentscheidung“ wiederzugeben wäre.

Ich will daher im Folgenden versuchen, eine Philosophie der durch Entscheidungen konstituierten Praxis mittels einer „Existentiallogik der Entscheidung“ zu entwickeln, die menschliches Handeln auf ihre notwendigen Bedingungen der Möglichkeit überhaupt untersucht.

Drei Bereiche der Reflexion scheinen mir hierbei praktisches Handeln zu konstituieren: 1. die Geschichtlichkeit des Menschen, 2. die daraus erwachsende Notwendigkeit der Entscheidung zur Tat, und schließlich 3. die den Sinnzusammenhang des Lebens bedingende „Optio fundamentalis“, die Grundausrichtung der Handlungen eines Subjekts. Anhand einer logischen Analyse der Zeitstruktur der Geschichtlichkeit des Menschen will ich das eine aus dem anderen entwickeln.

2.1 Die Geschichtlichkeit des Menschen

2.1.1 Definition

Müsste man die Geschichtlichkeit des Menschen beschreibend definieren, so besagte sie eine bestimmte Welt- und Zeitversammelnde Verfasstheit des menschlichen Daseins. Das will sagen: durch die Geschichtlichkeit steht der Mensch im Spannungsfeld einer immer schon vorgegebenen, behaltenen und doch entzogenen Vergangenheit einerseits, einer besorgten, ankommenden und noch ausstehenden Zukunft andererseits. Das konkrete Wesen des Menschen wird also nicht statisch als fertiges vorgefunden, sondern vom Menschen selbst im Dialog zwischen Freiheit und innerwelticher Konditionierung, d.h. in der Hinnahme und Auseinandersetzung mit dem ihm vorgegebenen Gründen und Bedingungen dieser seiner Freiheit geschaffen. Möglich ist diese „Selbstschöpfung“ des konkreten Wesens dadurch, dass der Mensch jenes ausgezeichnete Seiende ist, das im Gegensatz zur untermenschlichen Wirklichkeit die Differenz zu sich selbst ist. Das Wesen des Menschen ist damit nicht eine vorgegebene Struktur seines Handelns, sondern dem Menschen hat es in seiner Individualgeschichte erst um dieses Wesen zu gehen.

2.1.2 Analyse der Zeitstruktur des Menschen

Es bietet sich hierbei eine Analyse der zeitlichen Analyse der zeitlichen Struktur jedes menschlichen Handelns an, die dieser Wesensausbildung zugrunde liegt. Der Mensch befindet sich ja nicht nur äußerlich in einem objektiv festhaltbaren Zeitraum, sondern seinem Wesenskern nach ist er durch den Bezug zur Zeit als subjektiv-gelebte konstituiert, so dass Zeitlichkeit als seine innere Strukturform bezeichnet werden kann.

Eine Analyse dieser existentiellen Zeitstrukturiertheit ergäbe ungefähr folgendes Bild. Anregen hierfür lassen wir uns von Augustinus und in dessen Weiterführung von Merleau-Ponty.

Augustinus analysiert im 11. Buch seiner “Confessiones“ den Bezug des Menschen zur Zeit als “distensio animi”, als Zerdehntheit der Seele. Er meint damit: die nicht mehr seiende Vergangenheit, die das Jetzt bildende Gegenwart und die noch nicht seiende Zukunft sind nicht drei zusammenhangslose, nebeneinander existierende Zeiten, sondern drei Momente meines präsentischen Bewusstseins. Für Augustinus gilt somit: „Tempus est in anima“. Auf diesem Hintergrund definiert er

  • die Vergangenheit als “praesens de praeteritis“ (also als Gegenwart des Vergangenen),
  • die Gegenwart als “praesens de praesentibus“ (als Gegenwart des Gegenwärtigen) und entsprechend
  • die Zukunft als “praesens de futuribus“ (mithin als Gegenwart des Zukünftigen).

Die Intentionalität des Vergangenheitsbewußtseins ist das Gedächtnis, die des Zukunftbewußtseins das Erwarten. Das Gegenwartsbewußtsein als “praesens de praesentibus” verbindet beide zum Zeitfluss.

Übrigens: Moderne Phänomenologen wie Husserl, Heidegger und in besonderer Weise Merleau-Ponty teilen diese Sicht menschlicher Zeitlichkeit.

So hat etwa Merleau-Ponty diesen Ansatz weitergeführt. Er sieht in der Zeitlichkeit ein Netz von Intentionen, wobei er zwei Typen unterscheidet:

  • Retensionen besorgen das Motiviertsein aus Vergangenheit.
  • Protensionen lassen den Menschen auf Zukunft hin orientiert sein.

Beide bilden die “Ekstasen“ menschlichen Zeitbewusstseins, die Vergangenheit und Zukunft präsent sein lassen.

Retensionen und Protensionen liefern uns jetzt die Grundlage für die Anwendung der logischen Modi auf die Ekstasen des Zeitbewusstseins. So soll die erste der Bedingtheiten von Handeln überhaupt gefunden werden.

Zur Anwendung kommen die log. Modi nach Aristoteles: möglich und unmöglich, notwendig und kontingent. Im Hintergrund soll dabei immer die Frage stehen: Wie ist der Übergang von Zukunft in Vergangenheit, also das geschichtliche Werden des Menschen, denkbar und was steht am Umbruch, an der Nahtstelle dieses Übergangs? Die Intentionalitätsdifferenz von Re- und Protension wird entsprechend differenter Logiken bedürfen.

So verlangt die Zukunft als Ort der Protension eine Logik der  Kontingenz oder der Nicht-Exklusion, d.h. Zukunft ist Ort der reinen Möglichkeit, der Alternativen, die noch offen sind. Zukunft ist der Ort des Sollens, des ethischen Handelns. Sprechen von Zukunft ist immer ein Sprechen in Alternativen. Sowohl das eine als auch das andere kann möglich sein. Die Bezogenheit auf Zukunft in ihrer kontingenten Logik bietet mir somit die Möglichkeit, Freiheit zu aktuieren und konkret werden zu lassen. Das Mögliche und Kontingente lässt sich ja nicht mit dem Notwendigen verbinden: ein möglich Notwendiges ist eine contradictio in se.

Auf die Vergangenheit und unser Bewusstsein davon wird entsprechend eine Logik der Notwendigkeit zur Anwendung kommen müssen. Einmal vergangen Geschehenes ist unveränderbar; ohne Alternativen bleibt die Retension darauf fixiert. Vergangenes konditioniert uns damit und wird ein Teil im Prozess unseres Werdens.

2.2 Entscheidung als kairotischer Hiatus des Übergangs von Zukunft in Vergangenheit

Bisher haben wir noch nicht beantwortet, wie sich auf dem Hintergrund der Ekstasen des Zeitbewußtseins, Pro- und Retension, der Übergang von Zukunft in Vergangenheit, von Möglichem in Notwendiges vollzieht.

Zu antworten wäre mit dem Begriff der Entscheidung, die ihren eigenen Kairos hat. Sie schöpft die ganze aktuelle Fähigkeit des Handelns aus. Durch Entscheidung für die eine oder die andere Möglichkeit, die mir protensionell geboten sind, wende ich mich in absoluter Weise einer nicht-absoluten Möglichkeit zu. Im Übergang von Zukunft in Vergangenheit befindet sich gleichsam als Hiatus die immer zwischengeschaltete Entscheidung, die irrevokablen Charakter hat, da sie sich auf eine der angebotenen Möglichkeiten festlegt und sie in Notwendigkeit bzw. Wirkliches überführt. Das Ergebnis dieses meines Entscheidens, das Vergangenheit geworden ist, bildet jetzt eine ständige Bedingung meines weiteren Tuns. So läßt sich sagen, daß Zukunft wesentlich bereits Zukunft eines Vergangenen ist, da die Vergangenheit gewordene Entscheidung für eine ehemals zukünftige Möglichkeit mich in der Wahl neuer Möglichkeiten einschränkt. (anders gewendet: das, was ich durch vergangene Entscheidungen zu meiner Wirklichkeit gemacht habe, konditioniert meine Zukunft mit). Die Einheit menschlicher Zeitlichkeit ist damit als konstituiert anzusehen durch die Dezisionalität. Der Mensch kann und muß sich entscheiden. Jeder Augenblick des zeitlichen Ablaufes fordert mir eine Entscheidung ab. Je bewußter ich diese ergreife, desto mehr und desto kohärenter forme ich das mein nach Konkretisierung rufendes Wesen selbst, das im Ertrag die Summe meiner Entscheidungen ist, die in meine konkrete Praxis münden. Entscheidung müßte daher Grundkategorie einer die konkrete Existenz adäquat einholen wollenden Philosophie der Praxis sein.

Betrachten wir hierzu thesenartig die Vielfalt der Bezüge, in denen eine Entscheidung steht, um ihr Wesen zu erhellen.

Zwei Momente kennzeichnen eine Entscheidungssituation:

  • Zum einen eine gewisse konkrete Bestimmtheit, denn im Abstrakten und gänzlich Unbestimmten drängt sich keine Entscheidung auf, ja sie ist nicht einmal möglich.
  • Zum anderen die Notwendigkeit eines Entweder – Oder, einer im letzten absolut bevorzugenden Wertwahl.

Beide zusammen umschließen das Wesen der Praxis und bilden den Ort, besser: das Aufgabengebiet der konkreten menschlichen Freiheit:

  • Das Moment der konkreten Bestimmtheit will nicht sagen, daß Konkretes bis in letzte Einzelheiten bestimmt sein müßte und wir es adäquat reflex einzuholen im Stande wären. Es deutet vielmehr an, daß sich die Bestimmtheit aus und in einem konkreten Kontext ergibt, auf dessen Hintergrund der Übergang von Zukunft in Vergangenheit stattfindet. Was existiert, kann nicht im Allgemeinen und auf unbestimmte Weise sein; es existiert als dieses Besondere im ganzen Kontext alles Seienden. Letztlich ist dieser Kontext das ganze Weltgeschehen; das ganze Universum und unsere Vorgeschichte kommen mit ins Spiel: unsere eigene persönliche Geschichte, sowohl in seinen bewußten, als auch in den unbewußten Dimensionen; ebenso die Geschichte unserer Vorfahren und schließlich die Geschichte unserer gesamten Umwelt.

Neben diesem vergangenen Kontext wird eine Entscheidungssituation bestimmt von den künftig zu erwartenden, d.h. freilich nicht sicher und unbedingt eintreten müssenden Auswirkungen und Verpflichtungen, die ein bestimmtes Tun im Zusammenhang der Welt und der Geschichte haben wird. Ja, diese jetzt nicht abzusehenden künftigen Verflechtungen werden in einem späteren Zeitpunkt den vergangenen Kontext neuer Entscheidungen bilden, neue Möglichkeiten eröffnen oder verbauen – und zwar für mich und für die anderen.

So entsteht eine Art Kreislauf. Dieser Kreis erst schließt Praxis zu einem Beziehungsgeflecht zusammen. Praxis muß als eine Wirklichkeit gesehen werden, die sich im Fortschreiten der Zeit selbst bedingt und bestimmt. Die Entscheidung ist hierbei das Moment der Diskontinuität zwischen Zukunft und Vergangenheit. [Sie unterbricht den Fluss der Zeit, auch den Fluss unseres Zeitbewusstseins, sie bricht in die Zeit ein, wie der Kairos, ja, sie ist der Kairos, den es zu ergreifen gilt.]

  • Ferner ist eine Entscheidung in ihrem Grunde immer Entscheidung als ein Entweder-Oder. Weil Praxis unvermeidlich konkret-ganzheitlich und nichtwieder rückgängig zu machen ist, nimmt schon der bloße Entwurf einer wünschenswerten Praxis, also die Planung einer Zukunft, ebenso unvermeidlich die Gestalt eines endgültigen Entweder-oder an. Entschiedenheit ist damit immer ethisches Entscheiden gegenüber dem, was als eigentliches Ideal noch zur Verwirklichung erworben werden muss. Ethisches Bewusstsein ist ja letztlich nichts anderes als das Bewusstsein des Menschen als noch offene Möglichkeit, als Zukunft verstanden als Ort des Sollens.

Jetzt stellt sich nur noch die Frage, was dieses “Noch-nicht-Sein” ist, dem gegenüber der Mensch sich zu entscheiden hat, und das implizit in jeder Entscheidungssituation mitschwingt.

Eine Antwort haben wir schon angedeutet: es ist das bis zum Tod im Werden begriffene individuelle Wesen der handelnden und entscheidenden Person selbst. Denn das Individuum macht sich erst im Laufe des Lebens durch seine Entscheidungen und seine Praxis zu dem, was es gewesen sein wird. Damit dieses Wesen identifizierbar ist, dürfen die einzelnen Entscheidungen nicht einfach unverbunden nebeneinander stehen, sie bedürfen einer verbindenden Kohärenz. Denn eine beliebige Vielzahl von Entscheidungen ergibt noch nicht die Kontur eines Individuums. Zwar ist jede Entscheidung eine kairotische: denn aus Freiheit entscheide ich mich für das und mache es zu dem Wirklichen und Notwendigen, das mich fürderhin bestimmen und konditionieren soll. Freiheit wäre freilich nur Willkür, aber noch nicht Autonomie, nämlich Selbstgesetzgebung, wenn sich die Person nicht dauerhaft an etwas selbstakzeptiertes Werthaftes binden würde, das die Vielzahl seiner Entscheidungen zur Einheit zusammenbindet und dadurch die Einzelentscheidung der eigenen Willkür dauerhaft entzieht, damit auch diese Teil des sich sukzessiv ausbildenden Wesens eines Individuums wird.

Wir müssen daher über das sprechen, was in der Tradition „optio fundamentalis“ oder Grundentscheidung genannt wird. 

2.3 Der Kairos der „Optio fundamentalis“

2.3.1 Sartre und Heidegger: Existenz und Essenz

Nach Jean-Paul Sartre ist der Mensch ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann. Dies bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und danach sich erst definiert. Dem Menschen ist das Sein nicht von Anfang an mitgegeben, sondern aufgegeben. Mit Existenz ist damit jenes Faktum gemeint, das je seine Möglichkeit ist.

Nach Heidegger wird der Mensch selbst zum “Sein-Könnenn; ihm wird gegeben, in Freiheit mit seinem Dasein gleichsam wie mit einem Material umzugehen. Man könnte also zusammenfassend den Wert, das Noch-nicht-Sein, das es in der Entscheidung zu intendieren gilt, auch das Selbstsein des Menschen nennen, das es inhaltlich individuell auszufüllen gilt.

2.3.2 Selbstsein als Aufgabe

Damit ist aber schon ein Programm vorgegeben, innerhalb dessen die Einzelentscheidungen zu einem kohärenten Ganzen zusammenwachsen sollen. Die sich dabei in allen Entscheidungen durchhaltende Ausrichtung menschlichen Daseins wie Selbstsein, Suche nach Sinn, Konfrontation mit dem eigenen Tod, soll Gewähr bieten, die dauernde im Übergang von Zukunft in Vergangenheit anzusiedelnde Diskontinuität von Zeitlichkeit zu überwinden. Dasein findet erst Kontinuität in der Ausbildung des eigenen Wesens. Die Bedingung dieser Kontinuität ist ein Kohärentwerden der Einzelentscheidungen, die für sich betrachtet Hiate zeitlichen Fortschreitens sind.

2.3.3 Die verschiedenen Tiefen der Entscheidung

Dieses Programm, das eigene Selbstsein, tritt natürlich in verschiedenen Entscheidungen auch unterschiedlich stark hervor, je nachdem, wie tief eine Entscheidung den Kern des Personseins berührt. So gibt es Entscheidungen, die eine deutlich erkennbare und permanent sich zeigende Wurzel im Innern des operativen Dynamismus der Person besitzen. Dies läßt sich zumeist an einem gewissen Entscheidungshabitus ablesen. Geht man also von den peripheren zu den grundlegenderen Entscheidungen zurück, findet man ein operatives Netz ausgebildet, das die Diskontinuität menschlicher Geschichtlichkeit aufzufangen im Stand ist.

2.3.4 Der Antrieb zur Grundentscheidung

Als Antrieb zu einer grundlegenden Ausrichtung, wie sie sich in der Entscheidung zu einem Beruf, zur Ehe, zur künstlerischen Tätigkeit zum Dasein eines Politikers oder zum Priestertum oder Ordensleben manifestiert, müssen wir eine Urtendenz menschlichen Wollens ausfindig machen, die jedem konkreten Wollen zugrunde liegt und diese mitmotiviert. Diese Urtendenz läßt sich als Drang zum Selbstsein nachweisen, als Wunsch, sich in Ganzheit als ein identifizierbares Individuum realisiert zu wissen. Eine Erfüllung dieses Dranges wäre gleichsam die fundamentalste Form von Glück.

Diese grundlegende Verfaßtheit, dieser originäre Drang des Wollens, stellt eine Art transzendentaler Bedingung jeder menschlichen Ausrichtung dar. Diese Konstitution als Antrieb zur eigenen Wesensverwirklichung nimmt dabei dem Individuum nichts von seiner Freiheit, da diese Sehnsucht nicht auf eine vorbestimmte Form ausgerichtet ist, sondern schon vor dem Wissen um deren inhaltliche Füllung mit zukünftig zur Verfügung stehenden Möglichkeiten vorhanden ist, also bevor der Mensch reflex festgestellt hat, in welch konkreter Gestalt er sich selbst realisieren will. Erst der immer neu auf ihn zukommende Hiat des Übergangs von Zukunft in Vergangenheit bietet ihm die Möglichkeit, diesen Drang nach Selbstsein und Selbstwerdung zu aktuieren.

2.3.5 Die Geschichtlichkeit der Optio fundamentalis

Die Grundentscheidung steht damit selbst unter dem Gesetz der Geschichtlichkeit, aber – man könnte sagen – in 2. Potenz, da sie ihrerseits geschichtliche Entscheidungen voraussetzt:

  • Zum einen ist sie aus Vergangenheit motiviert. Sie ist kein einmaliger personaler, von aller Vorgeschichte losgelöster Akt, sondern sie überformt vorgegangene Entscheidungen und erwächst aus ihnen.
  • Zum anderen ist die Optio fundamentalis als „semper et pro semper“ auf die nachfolgenden Entscheidungen als “semper et non pro semper” hin ausgerichtet. Wir können hier von einer intentionalen Dynamik der Grundentscheidung in die Einzelentscheidungen hinein sprechen. Die Grundentscheidung wird somit zu einer Art hermeneutischem Prinzip, mittels dem neue existentielle Situationen interpretiert werden.

Da die Optio fundamentalis – implizit gewachsen oder explizit gefällt – vorerst nur ein formales Interpretations-Prinzip aller zukünftig auf einen zukommenden Möglichkeiten ist, muß sie sich immer wieder neu im Einzelakt zum Einsatz bringen, das will sagen: sich neu inkarnieren, sich in der Veräußerlichung konkret inhaltlich füllen. So bleibt beispielsweise die Entscheidung zur christlichen Existenz ewig eine leere, wenn sich dies nicht in konkretem Tun äußert, so dass sie nur ein Lippenbekenntnis bleibt. Eine Grundentscheidung eröffnet also wesentlich eine stabilisierte Zukunft. Sie kann in hervorragender Weise dazu dienen, vor allem schicksalsmäßige Fremdgegebenheit als einschneidende Gefährdung der inneren Stimmigkeit des Entscheidungsschicksals aufzufangen und zu Elementen des eigenen Profils zu machen.

2.3.6 Das Maß der Sinnhaftigkeit einer Grundentscheidung: Kohärenz und Glaubwürdigkeit

Das Maß der Richtigkeit einer Optio fundamentalis ist daher deren Lebbarkeit, was teilweise eine Neuausrichtung oder gar völlige Änderung nicht ausschließt. Auch gilt, dass die Optio fundamentalis nie eine ganz zu konkretisierende ist, sondern immer nur approximativ in Einzelentscheidungen zu realisierende ist. Zwischen Grund- und Einzelentscheidung besteht daher immer ein geschichtlich bedingtes Spannungsverhältnis. Ein Unsicherheitsfaktor.

Indikator ihrer approximativen Realisation unter endlichen Bedingungen ist zum einen die Kohärenz, in der die vielen Einzelentscheidungen stehen. Zum anderen deren Glaubwürdigkeit oder Credibilität, die sich in der daraus folgenden Praxis dokumentiert (wie wir noch sehen werden). Denn die Grundentscheidung ist nur dann glaubwürdig und nicht nur ein folgenloses desiderium pium, wenn einerseits alle weiteren Entscheidungen in Kohärenz zu ihr stehen und andererseits daraus Taten oder eine Praxis folgen, in denen sich Grundentscheidung und Einzelentscheidung gleichsam inkarnieren und diese dadurch erst zur Wirklichkeit wird.

2.3.7 Dogmatismus und Fanatismus  

Wird die geschichtliche Bedingtheit des Spannungsverhältnisses von Grund- und Einzelentscheidung missachtet und kommt es zu einer erstarrten Auseinandersetzung der beiden, so führt dies zu Dogmatismus und Fanatismus. Wird die Grundentscheidung nämlich von ihrem geschichtlichen Vor- und Rückbezug abgelöst, erscheint sie nur mehr als radikale Einzelentscheidung, die zwar mit aller Kraft festgehalten und nicht mehr verändert wird, aber dabei nicht in den konsequenten Zusammenhang eines sich artikulierenden Lebensweges einbezogen wird. Das Gesamtphänomen verkümmert ohne Berücksichtigung der zeitlichen Ekstasen, denen auch das Entscheidungsbewusstsein unterworfen bleibt, tritt gleichsam ungeschichtliche Ballung ein: nämlich Fanatismus und Dogmatismus.

3. Der Kairos der Praxis und die Verstrickung der Person im „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“

Der Kairos der Grundentscheidung und unsere kairotischen Einzelentscheidungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Die Grundentscheidung wäre – wie schon angedeutet – ein folgenloses, mithin auch unglaubwürdiges desiderium pium, ein bloß frommer Wunsch, ein belangloses Allgemeines, weil noch nicht Wirkliches, würde sie nicht zur Praxis, zur konkreten Tat drängen. Die konkrete Praxis ist gleichsam die Vollendungs- und Realisationsgestalt der Grundentscheidung. Praxis hat daher auch einen eigenen Kairos, nämlich den günstigen Moment in Raum und Zeit. Denn praktisches Tätigkeitsein ist immer konkret-situativ eingreifendes, wirklichkeitsveränderndes Handeln im Gewebe der menschlichen Angelegenheiten.

3.1 Personalität des Handelns

Praxis ist zudem wesentlich personal, und zwar in einem dreifachen Sinn:

(1.) Der Mensch offenbart erstens im Handeln (und nur dort), wer er als Person ist und wer er sein will. Ein Urteil über das Handeln ist daher indirekt immer auch ein Urteil über den Handelnden.

(2.) Praxis ist zweitens deswegen immer personal, weil von Handlungen nur dort gesprochen werden kann, wo eine Aktion zwischen mindestens zwei Personen stattfindet. Verhalten kann man sich gegenüber der Natur, Handeln immer nur gegenüber und mit anderen Personen oder in einem Geflecht von Handlungen anderer Personen. Praxis richtet sich also immer an Menschen als Adressaten, nicht an Sachen. Im Umkehrschluss heißt dies: Der Umgang mit Menschen wie überhaupt das Geflecht der menschlichen Angelegenheiten ist durch Handlungen und nicht durch Dinge und Herstellungsprozesse und deren Produkte konstituiert.

(3.) Schließlich ist Praxis, drittens, auch deswegen personal zu nennen, weil die Person des Handelnden selbst das Werkzeug der Handlung ist. Während Herstellungsvorgänge sich externer Werkzeuge bedienen, um etwas herzustellen, hängt die Qualität einer Handlung wesentlich von den Fähigkeiten des Handelnden selbst ab.

Sprechen und Handeln stehen hierbei in einem engen Zusammenhang, denn Taten, die nicht von Reden begleitet sind, verlieren einen großen Teil ihres Offenbarungscharakters der Person. Sprachlose Taten sabotieren gleichsam jede Verständigung und werden dadurch zu bloße „Tatsachen“, zum Handeln ohne Handelnden. Erst durch das gesprochene Wort fügt sich die Tat in einen Bedeutungszusammenhang. Dies nicht so sehr deswegen, weil es die Funktion der Sprache wäre, die Tat zu erklären, sondern weil das begleitende Wort vielmehr den Täter und die durch die Tat verfolgte Absicht identifiziert, ohne die weder die Qualität der Handlung, die sich u. a. auch aus der Relation von Absicht und Tat ergibt, ermessen, noch die Unterscheidung von bewusstem Handeln und unbewusstem Verhalten aufrechterhalten werden könnte.

3.2 Das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ als Ort der Praxis

Handlungen liegen in ihrem Effekt nicht vor wie Objekte in der physikalischen Welt. Vielmehr betrifft fast alles Handeln und Reden gleichsam den „Zwischenraum“, der zwischen Menschen ist und den Menschen als gemeinsamen Handlungsraum mit ihren Interessen als ein Dazwischen (inter-esse) konstituieren. Dieser durch Handlungen und Worte konstituierte „Zwischenraum“ lässt sich nicht verdinglichen und objektivieren wie der objektive Zwischenraum, der durch Dinge, naturale Vorkommnisse, Artefakte und Produkte angefüllt ist. Er ist in seiner objektiven Ungreifbarkeit freilich nicht weniger wirklich als die Welt unserer sichtbaren Umgebung. H. Arendt nennt diese Wirklichkeit „das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, wobei die Metapher des Gewebes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden. Der Bereich, in dem die menschlichen Angelegenheiten vor sich gehen, besteht in einem jedem Handeln und Sprechen vorausliegenden Bezugssystem, das sich über alles legt, wo Menschen zusammenleben. Es bildet den eigentlichen Ort von Handlungen. Das Handeln des Einzelnen fügt sich in dieses bestehende Gewebe auf einmalige Weise wie ein darin im Laufe des Lebens verflochtener Faden ein. Sind alle Fäden des Handelnden im Laufe seines Lebens zu Ende gesponnen, dann ist seine durch Handlungen konstituierte und nun zum Abschluss gekommene Lebensgeschichte erzählbar. In ihr zeigt sich das Wesen des Handelnden als die Summe seiner Handlungen freilich nur den Mithandelnden. Denn Handeln und Sprechen in Isolation und ohne beständigen Kontakt mit dem Bezugsgewebe einer Mitwelt, an das sie sich richten, sind niemals möglich.

3.3 Lebensgeschichte als Resultat von Verstrickungen

Weil das Gewebe, das der Handelnde und Sprechende nicht selbst gemacht hat, in das er aber unentrinnbar verwoben ist, immer schon da ist, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in ihrer inneren Einheit verwirklichen. Der eigene, in dieses vorgegebene, sich permanent verändernde Gewebe geschlagene Faden ist das ursprüngliche Produkt des Handelns. Es besteht nicht in der Realisierung vorgefasster Ziele und Zwecke, sondern in ursprünglich vom Handelnden gar nicht intendierten Geschichten, die sich beim Verfolgen seiner Ziele ergeben und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen. Das was von seinem Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, Motive, Entscheidungen und Ziele, die ihn selbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die sie unabsehbar verursachten.

Die Spanne menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod formiert sich damit zu einer erzählbaren Geschichte mit Anfang und Ende. Diese Geschichten, die ggf. im Gedächtnis der Generationen lebendig bleiben und als Geschichten über jemanden erzählt werden, handeln nicht von Sachen oder Gegenständen, sondern vom Subjekt als dem „Helden“, Verursacher und Täter der erzählten Geschichte. Erzählbare Geschichten sind mithin die eigentlichen Produkte des Handels und Sprechens. Und obwohl es eine enge Verflechtung der Geschichte und der Geschichten zu der Person gibt, die ihr Veranlasser ist, ist aufgrund der Verwobenheit seiner Geschichte in das „Gewebe der menschlichen Angelegenheiten“ nicht eigentlich sie es, die die Geschichten gestaltet hat. Die Person ist Initiator seiner Geschichte, aber nicht eigentlich deren Verfasser. „Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten, aber niemand hat sie ersonnen.“

Weil die potentiellen Konsequenzen des eigenen Tuns nie berechenbar und überschaubar sind, sich aber in unserem Handeln wir selbst uns entbergen, erzeugt die Unabsehbarkeit der Handlungsfolgen die eigentümliche, auf den Ausgang gerichtete Lebensspannung, die zum Gang unserer biographischen, durch Handeln unweigerlich erzeugten Geschichte gehört. Diese eigentümliche Spannung des Lebens löst sich erst am Ende des Lebens auf, weil sich erst dann die Bedeutung der Geschichte enthüllt, in die wir Zeit unseres Lebens verstrickt waren und deren Ausgang wir nicht kennen können. Der Sinn des Handelns und die Bedeutung der individuellen Geschichte entbergen sich erst dann, wenn der Prozess des Lebens an sein Ende gekommen ist. Und er entbirgt sich nur denjenigen, die nicht in diese Geschichte verstrickt sind, die sie daher überblicken und erzählen. So sind erzählbare Geschichten die einzigen eindeutig handgreiflichen, mithin auch der Fremddeutung ausgesetzten Resultate menschlichen Handelns. Der Sinn seines Lebens erschließt sich mithin nicht dem Handelnden selbst, sondern immer nur dem anderen, der seine durch Taten konstituierte Geschichte erzählt, die als Lebensgeschichte wie ein Ding unter Dingen erst dann vorliegt, wenn sie an ihr Ende gekommen und der Träger tot ist. Wir hinterlassen als Resultat unseres Handelns mithin nichts als eine Geschichte, deren Vollendung wir mit dem Preis des eigenen Todes bezahlen.

Schluss: Der Mythos von Herakles als exemplarische Wiederspiegelung der existentiellen Bedeutung der drei Dimensionen des Kairos

Der Versuch, eine Philosophie der Praxis, die durch den Kairos der Grundentscheidung, kairotische Einzelentscheidungen und den Kairos der Tat gekennzeichnet ist, zu explizieren, soll abschließend noch eine exemplarische Anwendung erfahren.

Hierzu soll uns der Mythos von Herakles am Scheideweg dienen, wie er uns in Xenophons (gest. 355 a.Chr.) Memorabilien (seinen Erinnerungen an Sokrates, 2.1, 21-34) überliefert ist. Mythos ist ja beispielhaftes Bild oder Gleichnis für Welt- und Lebenszusammenhänge und nach neuerer Auffassung eine sich im Unterbewusstsein der Generationen vollziehende Ansammlung gleichlaufender Bilder, in dem bestimmte Seiten der menschlichen Existenz im Symbol ihren Ausdruck finden.

Der achtzehnjährige Herakles, der im Begriffe stand, aus dem Knaben- in das Jünglingsalter überzutreten, in dem die Jünglinge bereits selbständig werden und zeigen, ob sie den Weg der Tugend oder des Lasters zu ihrem Lebensweg machen wollen, ist aufgebrochen, um seine Existenz zu ordnen. Er hat sich in eine einsame Berggegend zurückgezogen. Hier in den Bergen – wohl Bild für die herausgehobene existenzielle Situation, in der er sich gerade befindet – will er über seinen Lebensweg nachdenken und entscheiden, ob er seine Kenntnisse und seine Kräfte zum Guten oder zum Bösen anwenden wird – also er will eine Grundentscheidung treffen. So kommt er an einen Scheideweg. Auf den unschlüssig Dastehenden kommt auf jedem der beiden Pfade eine Frauengestalt zu: die eine war in ihrem Auftreten voll Anmut und Bescheidenheit, sie war schön anzusehen und edel, ihr Leib war rein, ihre Augen schamhaft, ihre Haltung sittsam; Ihre Kleidung war weiß. Ihr Haupt hielt sie gedankenvoll gesenkt.

Die andere dagegen schritt stolz und selbstgefällig schnell auf ihn zu, um der anderen zuvorzukommen. Die andere war wohl genährt bis zur fleischliche und Üppigkeit, sie war geschminkt, sodass sie weiße Unröte sich darzustellen schien, als sie wirklich war, und ihre Haltung so, dass sie gerade zu sein schien als von Natur, die Augen habe sie weit offen gehabt und ein Kleid aus feinem Stoff getragen, aus dem die jugendliche Schönheit hindurchschimmerte – wiederholt habe sie sich selbst angesehen, aber auch sich umgesehen, ob sie auch ein anderer beschauende, oft habe sie auch nach ihrem eigenen Schatten hingesehen. Mit schmeichelnden Worten bietet sie ihm ihren Weg als eine Straße voller Freude und Genuss an, die ihm von selbst zufallen sollen.

Ganz anders hören sich die Worte der bescheiden Auftretenden Frau an. Sie dringt auf eine Grundentscheidung, die auf dem Hintergrund des geschichtlichen Werdeganges des Herakles anzusiedeln ist, die seine Vergangenheit als auch die immer wieder neu zu fällenden und diese Optio fundamentalis erst realisierenden Folgeentscheidungen nicht unberücksichtigt lässt. Erst so kann sich das in Herakles Grundgelegte geschichtlich zu seinem ihm adäquaten Wesen entfalten.

Sie fordert einen Entschluss ein – einen Akt der grundlegenden Autonomie, denn ein solcher Akt der Freiheit und der freien Entscheidung geht unserem weiteren Lebensweg voraus, der uns dadurch zurechenbar wird und für den wir die Verantwortung tragen. Denn wir können späterhin auf ihn verweisen und ihn als Grund unseres Lebensweges benennen, d.h. unter Verweis auf ihn begründend Antwort geben auf die Frage: Warum hast Du Dein Leben so geführt, wie Du es geführt hast?

So spricht denn die bescheiden daherkommende Frau Herakles folgendermaßen an:

“Auch ich sehe, daß du unentschlossen an einem Scheideweg stehst. Höre mich an, denn ich kenne deine Eltern, deine körperlichen und geistigen Anlagen, deine Lehrer und Erzieher. Du hast von ihnen alles empfangen, was dich zu einem gütigen und großen Mann machen kann. Doch wisse, der Weg ist steil und steinig, den ich dir zeigen möchte, denn ohne Mühe und Arbeit gewähren die Götter nicht, was gut und edel ist. Willst du ernten, so mußt du säen… Wenn du diesen Weg gehst, wirst du dir die ewige Glückseligkeit erringen.“

Herakles wählt diesen Weg. Er ergreift den Kairos, den Moment der Grundentscheidung, der ein Moment der Freiheit im Sinne der Autonomie ist: Er gibt sich selbst – gleichsam autonom – ein Gesetz, das sein weiteres Handeln und seine weiteren Einzelentscheidungen fürderhin konditionieren wird. Seine weitere Geschichte, seine Taten und seine Entscheidungen, kurzum seine gesamte Lebenspraxis ist kohärent hierzu und bestätigen die Richtigkeit dieser Grundentscheidung. Er ist dadurch eine identifizierbare Person geworden, dessen Geschichte wir bis heute erzählen.