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Eröffnungvortrag am 28.12.2023 an der Thomas-Morus-Akademie/Bensberg
Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Einleitung

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Sie beschäftigen sich in diesen Tagen mit dem Thema „Aufbruch in die Moderne. Kunst und Kultur von der Jahrhundertwende bis zur Weimarer Republik“. Viel wird es dabei zu sehen und zu hören, aber auch nachzudenken geben, worin denn das Moderne des Modernen, das Sie sehen und hören werden, besteht.

Gegenüber diesen sicherlich ästhetisch erlebnis- und genussreichen Elementen dieser Tage, wird mein Eingangsbeitrag zu dieser Tagung als Philosophiehistoriker und Ideengeschichtler eher “drüsch”, weil von abstraktem Zuschnitt sein. Denn ich will mit ihnen über den Begriff der Moderne und des Modernen, die dahinterstehende Ideengeschichte und den geistesgeschichtlichen Ertrag dieses Epochenbegriffs nachdenken. Denn so eindeutig ist die Zuordnung des Phänomens des „Modernen“ zu der Zeit zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht. Vielmehr stellt die wirkmächtige Inanspruchnahme des Modernebegriffs durch diese Avantgarde in Kunst und Literatur eine starke ideengeschichtliche Verkürzung dar, welche die Idee der Moderne nicht wirklich ausschöpft.

 Freilich ist anzumerken, dass es kaum einen Begriff gibt, der so häufig gebraucht und gleichzeitig o wenig klar und deutlich ist, wie der Begriff der Epochenbegriff der Moderne bzw. des Modernen.  Er wir vieldeutig verwendet und ist zudem nicht selten normativ oder auch polemisch aufgeladen.

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Ich will daher mit meinen Ausführungen

1. aus philosophiegeschichtlicher Perspektive etwas Ordnung in die auf den ersten Blick wirre Vielfalt der Moderne-Narrative bringen und die Kennzeichen und Strukturmerkmale der Moderne-Vorstellung identifizieren.

2. In einem zweiten Schritt werde ich mich dem Wurzelproblem der Moderne zuwenden und fragen: Woher kommt denn die Moderne? Was ging ihr voraus und von was wendet sie sich ab? Sichtbar wird dies im 14. Jahrhundert im Übergang von der „via antiqua“ zur „via moderna“ in der Metaphysik, der durch ein theologisches Problem ausgelöst wurde. Der daraus resultierende Nominalismus, der dem Singulären und Konkreten den Wirklichkeitsvorrang vor dem Allgemeinen gibt,  eröffnet den Weg in die frühe Neuzeit und dann im 19. Jahrhundert in die sog. „Moderne“. 3. In einem dritten Schritt beschäftige ich mich mit der Kritik an dieser neuzeitlichen Entwicklung, die endgültig zur Moderne führt. Die Moderne resultiert dabei, so will ich zeigen, aus der Krise der in der Neuzeit eingespielten Dialektik von Vernunft und Freiheit.

1. Die Begriffe „modern“ und „Moderne“

1.1 Geschichte des Moderne-Narrativs

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Das Narrativ der Moderne begegnet rein begrifflich schon seit der Antike:

  • Das lateinische Wort „modernus“ (‚neu, neuzeitlich, gegenwärtig, heutig‘) stammt vom lateinischen Adverb modo (‚gerade, eben erst, jüngst, in seiner Ableitung vom lat. hodiernus auch heute) und meint „neu“, „gegenwärtig“ oder „heutig“, im übertragenen Sinne auch „zeitgemäß“. „modernus“ meint mithin das historische Jetzt der Gegenwart.
  • Ein bestimmte Vorstellung von „modern“ liegt auch der Entgegensetzung von „antiqui“ und „moderni“ , „den Alten“ und „den Neuen“ zugrunde, die es bereits bei den heidnischen und dann auch bei den frühen christlichen Autoren gibt. Überhaupt lässt sich an der Geschichte des Begriffspaars ‹antiqui/moderni› von der karolingischen ‹Renaissance› bis zum Weimarer Neuhumanismus der säkulare Prozess verfolgen, in dem sich die Literatur und Kunst der Neuzeit vom Kanon der Antike als ihrer vorbildhaften Vergangenheit gelöst haben. In der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wird in der sog. „Querelle des Anciens et des Modernes“ die Frage ventiliert, inwiefern die Alten der Antike, insbesondere Aristoteles, noch das Vorbild für die zeitgenössische Literatur und Kunst sein können. Die Frage wurde verneint.
  • Der deutsche Begriff „modern“ ist übrigens aus dem Französischen entlehnt (moderne/moderniser) und erscheint als Fremdwort seit 1727 in der Bedeutung von „neu“ als Gegensatz zu „alt“, „antik“. Als Substantiv wird „Modernité“ erstmals 1849 von Chateaubriand verwendet (allerdings noch in einem abwertenden Sinne) und dann 1859 maßgeblich von Baudelaire aufgegriffen. Im Deutschen verwendet Eugen Wolff den Neologismus „die Moderne“ erstmals 1886 auf „moderne Kunst“ bezogen. Der Begriff brachte offensichtlich das Zeitgefühl einer erreichten Kulturschwelle derart perfekt zum Ausdruck, dass ihn schon 1895 der „Brockhaus” aufnahm und damit zur allgemeinen Verwendung freigab. „Moderne“, so definierte der Brockhaus, ist die Bezeichnung für den Inbegriff der jüngsten socialen, litterarischen und künstlerischen Richtungen.”
  • In der Philosophiegeschichte wird der Begriff „modern“ vorrangig seit dem Spätmittelalter gebraucht, um das Ergebnis des historischen Übergangs von etwas denkerisch Altem, das als „via antiqua“ seine Plausibilität verloren hat, zu etwas Neuem, das als „via modern eingea“ der Zeit angemessener erscheint, zu bezeichnen. Der Nominalismus als die „via moderna“ in der Metaphysik leitet die Epoche der Neuzeit, der „aetas nova“ ein, wobei diese in der Philosophiegeschichte zumeist in eine frühe Neuzeit (d.h. die Zeit zwischen der Renaissance und der Aufklärung) und die späte Neuzeit als die Zeit der „Moderne“, d.h. die Zeit nach Hegel eingeteilt wird.
  • Erst seit den 1980er-Jahren spielt das Wort „die Moderne“ auch in vielen anderen Disziplinen eine wichtige Rolle, während es bis dahin fast ausschließlich für eine Stilrichtung um die Jahrhundertwende in Literatur, Musik, Kunst oder Architektur gebräuchlich war, die sich gegenüber dem Bestehenden als das absolut Neue, Präzedenzlose, als radikaler Bruch mit jeglicher Konvention ausgab.
  • Weil bei Historiker/innen Anfang und Ende ei-ner Epoche immer umstritten sind, gibt es in der Geschichtswissenschaft mehrere Varianten einer Epoche dieses Namens. Die einen verlegen ihren Beginn auf 1500 – dann handelt es sich einfach um ein anderes Wort für Neuzeit. Oder man unterscheidet – wie in der Philosophiegeschichte – eine frühe Neuzeit von der „Moderne“ genannten späten Neuzeit.  Die Sozialwissenschaften lassen sie mit der Romantik um 1800 oder spätestens mit dem Tod Hegels 1831 beginnen.
  • Festzuhalten bleibt, dass je nach Disziplin und Fachdiskurs die Epoche der Moderne sehrn unterschiedlich verortet. Aus geistesgeschichtlicher Perspektive findet der Übergang vopm Alten zum Modernen mit der Renaissance statt, aus ökonomischer Perspektive mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, aus politischer Perspektive mit der Französischen Revolution im späten 18. und dem Nationalismus im frühen 19. Jahrhundert, aus literatur- und kunstgeschichtlicher Perspektive, wie schon anhand des Tagungsprogramms festgestellt, im ausgehenden 19. Jahrhundert als ästhetische Moderne.
  • Dass die Moderne als Epoche – nicht zuletzt wegen der in ihr auftretenden Ambivalenzen – ein Übergangsphänomen ist und auch ein Ende haben kann, finden ihren Niederschlag in der Rede vom „Ende der Moderne“, von einer „Zweiten Moderne“ oder von der „Spät-„ oder „Postmoderne“.
  • Übrigens auch in der Kunst bliebt der Modernebegriff ein umstrittener Kampfbegriff. Er wurde mit erklärenden Adjektiven wie z.B. „klassisch“ näher bezeichnet bzw. verteidigt. Auf die Dauer half das aber nichts. Wer sich dem ewigen Streit entziehen wollte, konnte entweder wie das Bostoner Institute of Modern Art die neutrale Bezeichnung Institute of Contemporary Art wählen oder die jeweils neue Stilrichtung als „postmodern” bezeichnen.

1.2 Drei Bedeutungsmöglichkeiten des Moderne-Begriffs

Im Laufe der Begriffsgeschichte haben sich drei Bedeutungsmöglichkeiten des Moderne-Begriffs herausgebildet.

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

1.2.1 Das Moderne als das schlicht Gegenwärtige und Gegebene

In einer ersten Bedeutung meint „modern“ schlichtweg das Gegenwärtige und das Gegebene. Der Gegenbegriff wäre: ‘vorherig’/“ehemalig“. In dieser Bedeutung wird das Prädikat ‘modern’ von Konzepten oder Personen ausgesagt, die in einem institutionellen Rahmen gegenwärtig eine Position ausfüllen, die vorher anders besetzt war. In diesem Sinne sprach man schon in der Antike vom „pontifex modernus“ als dem gegenwärtigen oder aktuellen Papst. Oder man spricht vom „modernen“ Schnitt in der Damenmode. Dieser Modernebegriff ist wertneutral gegenüber Vergangenheit und Zukunft.   

1.2.2 Das Moderne als die sich von der Vergangenheit absetzende Gegenwart: Moderne als affirmativer Epochenbegriff

Eine zweite Bedeutungsmöglichkeit von ‘modern’ meint das in der Gegenwart sich zeigende „Neue”, „Aktuelle“, „der Zeit Angemessene“, das „Zeitgemäße“, „Zukunftsoffene“ und „Zukunftsorientierte“. Gegenbegriffe wären: ‘alt’ und „veraltet“, „traditionell“, „unzeitgemäß“, „vergangenheitsorientierte“. Dieser Modernebegriff ist nicht mehr wertneutral gegenüber der Vergangenheit, die mehr oder weniger abgewertet wird. Bereits überall dort, wo seit dem 13. Jahrhundert das Epochenparadigma „antiqui/moderni“ auftaucht, dort begegnet der Modernebegriff als ein solcher affirmativ-euphorischer Epochen- und Hoffnungsbegriff. Das Moderne ist die Gegenwart, die die Vergangenheit ablöst und die auf Zukunft hin orientiert ist.

1.2.3 Das Moderne als die zu überwindende Gegenwart

Eine dritte Bedeutungsmöglichkeit von „modern“ ist eindeutig negativ konnotiert. Denn das, was als „modern“ bezeichnet wird, sei nur etwas „rasch vorübergehendes”, das bloß „Modische“, das „Kurzlebige“, was daher keinen Bestand haben wird.  Der (positiv konnotierte) Gegenbegriff ist dann das ‘Ewige’, „Langlebige“, Orientierende, das, was sich bereits bewährt hat und auf was man sich auch in Zukunft verlassen kann. Das Motto lautet: Die Vergangenheit ist die Zukunft. Statt Moderne wird dann von „Modernismus“ gesprochen. Dieser dritte Moderne-Begriff fungiert als Diffamierungs-, Kritik- und Kampfbegriff. Er eignet sich zum Schimpfwort gebraucht.

1.3 Kennzeichen der Moderne als Epoche

Literatur- und Kunstwissenschaft, Soziologie und Philosophie kennzeichnen die Moderne als Epoche jeweils unterschiedlich.

1.3.1 In der Epoche der Moderne (1880-1920)

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Für die Kunst und Literatur von 1880 bis 1920 werden folgende Merkmale genannt:

  • Die Moderne versteht sich als der Versuch, den zeitlichen Umbruch widerzuspiegeln,
  • Sie versteht sich als Gegenbewegung zum Realismus und zum Naturalismus,
  • Und ist ein Sammelbegriff für mehrere Unterepochen (Impressionismus, Expressionismus, Symbolismus, Dekadenz, Jugendstil, Ästhetizismus, Neuromantik und Dadaismus)
  • Im Mittelpunkt steht das Innenleben,
  • Neues und Innovatives soll im Bruch mit der Vergangenheit geschaffen werden
  • Beschrieben werden Ideen und Gefühle
  • Individualität und Subjektivität sind wichtige Themen
  • Wesentliche Motive sind Verfall, Dekadenz und Tod
  • Figuren scheitern oft an ihrer eingeschränkten Weltsicht
  • Geschildert wird eine apokalyptische Endzeitstimmung.
  • Themen sind die individuelle Wahrnehmung, das Unterbewusste, Dekadenz, Verfall, Tod, Pessimismus, Sprachkritik und Kommunikationslosigkeit.

1.3.2 In der Soziologie

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Erst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Epochenbegriff der Moderne auch zum Gegenstand der Philosophie und der Soziologie.  Die Soziologen verorten den Beginn der Moderne mit der Zeit ab der Aufklärung, zumal der Industrialisierung und der mit ihrer voranschreitenden Bürokratisierung. Sie begann mit dem 18. Jahrhundert, und während dieser Zeit bildete sich die bürgerliche Gesellschaft sowie der Nationalstaat heraus. Sie wurde von Soziologen wie Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, 1922) und Ferdinand Tönnies (Geist der Neuzeit, 1935) klassisch beschrieben.

Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen sind sich die Soziologen weitgehend darin einig, dass von Moderne überall dort gesprochen werden kann, wo folgende Merkmale gegeben sind:

  • die Säkularisierung,
  • die Aufklärung,
  • die Industrialisierung,
  • die Ablösung der absolutistischen Staatsform (Ancien Régime) durch Kapitalismus und Demokratie.
  • der Fortschrittsglaube, d. h. die Vorstellung, dass die materiellen Errungenschaften des Menschen unbegrenzt wachsen (fortschreiten) könnten.
  • die Rationalität, d. h. der Glaube an die Vernunft und die Vorherrschaft rationaler Überlegungen.
  • die Autonomie gesellschaftlicher Bereiche, wie Ethik, Politik, Recht und Wirtschaft, Kunst und Literatur,
  • die Emanzipation des Individuums aus vorgegebenen religiösen und kulturellen Zwängen,
  • sowohl Individualisierung und der Individualismus (Westen) als auch Kollektivismus (Russland)
  • die Trennung von Staat und Gesellschaft,
  • der Menschenrechtsuniversalismus bei gleichzeitigem Weiterbestand nationalstaatlicher Grenzen.
Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Die niederländischen Soziologen Hans van der Loo und Willem van Reijen () verstehen Moderne als Ertrag eines Modernisierungsprozesses, der als eine Kombination von vier Basisprozessen betrachtet werden muss:

  1. einem Prozess der Differenzierung und Pluralisierung
  2. einem Prozess der Individualisierung,
  3. einem Prozess der Rationalisierung, dem Ordnen und Systematisieren der Wirklichkeit,
  4. und dem Phänomen der Domestizierung der Natur und der Überwindung ihrer Grenzen durch Wissen und moderne Technologien

Dass die Emanzipation des Menschen von der Natur begleitet, wird von einer immer größeren Abhängigkeit von der Technik, markiert Paradoxien und Ambivalenzen der Modernisierung auf allen Ebenen.

1.3.3 In der Philosophie

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Ganz anders gehen die Philosophen bei der Bestimmung dessen vor, was Kennzeichen der Moderne ist. Sie wollen das Phänomen des Übergangs von der Vormoderne zur Neuzeit bzw. zur Moderne von ihrer Wurzel her verstehen:

  • Der Hamburger Philosoph Herbert Schnädelbach sieht im Vernunft-, Freiheits- und Subjektverständnis der Aufklärung, wie sie in der Philosophie Immanuel Kants und G.W.F. Hegels vorliegt, die Wurzel der Moderne.
  • Der 1996 verstorbene Münsteraner Philosoph und Neuzeittheoretiker Hans Blumenberg ebenso wie der 2004 verstorbene Münchner Transzendentalphilosoph Hermann Krings gehen noch einen historischen Schritt weiter zurück, nämlich bis ans Ende des Mittelalters, nämlich bis zum spätmittelalterlichen Nominalismus des 14. Jahrhunderts.
Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Nach Blumenberg und Krings lassen Vormoderne und neuzeitliche Moderne sich von ihren Deutungen von Welt, Wirklichkeit und Mensch her klar unterscheiden:

SachbereichvormodernNeruzeitlich-modern
generellEinheit und gemeinsame Logik aller Lebens-, Wirklichkeits- und Sachbereiche – Gemeinsame Ziele – Gemeinsame WahrheitVielheit und funktionale Ausdifferenzierung aller Lebens-, Wirklichkeits- und Sachbereiche mit unterschiedlichen Zielen, Logiken und Sprachen (Codes): Autonomie der Sachbereiche
NaturSinnvoll, teleologisch geordnetes Ganzes – Natur als Grenze und Maßstab: „secundum naturam vivere“ – Schauende VernunftKausalmechanisch bestimmte Materie – Mensch als Meister, Beherrscher und Nutzer der Natur – Natur als Ressource – Instrumentelle Vernunft
RechtNaturrecht als vorgegebene Norm – MenschenpflichtenPositives Recht als gesetzte Norm und Willensbekundung des Volkes – Menschenrechte
Stellung des MenschenImplementierung in eine Gesamtordnung der Welt – Elend des Menschen („Erbsünde“) – Primat der Weltanschauungsgemeinschaft/des KollektivsWende zum Subjekt, zum Individuum angesichts einer instabilen Welt – Natürliche Gutheit des Menschen („Würde“) – Primat des Individuums
SozialitätEinbindung in eine festgefügte soziale hierarchische (Stände-) Ordnung – Gehorchende VernunftKoexistenz geregelt durch negative Abwehrrechte und Freiheitsrechte – Staat und Gesellschaft als Systeme der Freiheit – Emanzipatorische Vernunft  
SinnGlück nur in vorgegebenen Ordnungen – Religiös-integrierte SachbereicheJeder ist seines Glückes Schmied – Glück als emotionale Wallung – Religion als partikulares Interaktionsgebilde: Säkularisierung
MoralFeste Ordnung der Lebensformen – Gemeinsame Wertebasis – Klare Verstoß gegen die vorgegebene OrdnungPluralität gleichwertiger Lebensformen – Pluralität von Werten – Provisorische Moral
Wirklichkeit und WissenschaftRealismus – Teleologie – si deus daretur – VerifikationNominalismus – Konstruktivismus – si deus non daretur – Falsifikation
GeschichtePilgerweg (Mittelalter) zu einem jenseitigen Ziel – Wiederkehr des immer Gleichen (Antike) – Undenkbarkeit des NEUENKampfort konkurrierender Interessen – Fortschritt als Hoffnungskategorie – Das NEUE als Selbstwert
ReligionInterpretationsschlüssel für Mensch und Wirklichkeit – Aufgabe und PflichtSinnangebot unter vielen – Primat der Kontingenzbewältigung – Anfrage
FreiheitFreiheit als Leben gemäß einer bestimmten Ordnung – Primat der Ordnung – IntellektualismusFreiheit als AUTONOMIE? Primat der Freiheit vor der Ordnung – Voluntarismus

Ich will dieser Spur, dass die Entstehung von Neuzeit und Moderne sich dem gewandelten Vernunft- und Freiheitsverständnis des Spätmittelalters und im letzten einem theologischen Problem verdankt, im Folgenden nachgehen. Die Moderne verdankt sich, so die These, im letzten einem Paradigmenwechsel in der Geschichte der Vernunft und der dadurch bedingten veränderten Dialektik von Vernunft und Freiheit. Wir müssen uns also in einem zweiten Abschnitt mit dem Vernunftbegriff, seinen Varianten und seinem Bezug zum Freiheitsbegriff beschäftigen.

2. Vom Mittelalter zur Neuzeit: Die Vorgeschichte der Moderne (aus der Dialektik von Vernunft und Freiheit)

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Der Begriff „Vernunft“ ist historisch wie systematisch nicht erst seit der Neuzeit einer der wichtigsten Grundbegriffe der abendländischen Philosophie. Die gesamte abendländische Philosophietradition ist logozentrisch: sie versteht sich als Philosophie der Vernunft. Ihr Menschenbild wurzelt in der Überzeugung, dass der Mensch sich von allen anderen Lebewesen darin unterscheidet, dass er Vernunft besitzt und daher nicht nur vernünftig sein kann, sondern es auch sein soll. Vernunftbesitz ist für das Selbstverständnis, die Weltorientierung und im letzten auch die Freiheit des Menschen schlechterdings unverzichtbar.

Von daher braucht es nicht zu verwundern, dass auch die einschneidenden Zäsuren und Neuaufbrüche, die in der Philosophiegeschichte begegnen, etwas mit dem Wandel des Vernunftbegriffs zu tun haben. Denn wenn auch Vernunft selbst nicht historisch verstanden werden kann, so kann das Verständnis der Vernunft doch eine Geschichte haben und einem Wandel unterliegen.

Dabei begegnet uns die Rede von Vernunft in einer dreifachen Weise:

  • Zum ersten als objektive Vernunft: Sie kann als diejenige bestimmt werden, die in der Welt ist: als die Vernünftigkeit der Welt selber und ihrer inneren Ordnung. Unter dem Begriff „objektive Ver­nunft“ wollen wir den Inbegriff der intelligiblen, d.h. durch den Intellekt fassbaren Weltstrukturen verstehen.
  • Zum zweite begegnet uns die Rede von Vernunft im Sinne der subjektiven Vernunft: Gemeint ist damit die Vernünftigkeit von endlichen Subjekten bzw. ihr Vermö­gen, vernünftig zu erkennen und zu handeln.
  • Zum dritten wird auch von Gott als der absoluten Vernunft gesprochen. Die Rede von ihr wird erst durch den jüdisch-christlichen Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts urgent: denn die objektiven Strukturen der Welt waren nicht ewig, sie müssen gleich­sam von demjenigen, der die Welt erschaffen hat, in diese erst hineingelegt worden sein, gemäß – und dies ist wichtig – seiner eigenen Vernunftstruktur.

Die Übergänge vom antiken zum mittelalterlichen und von dort zum neuzeitlichen (und dann modernen) Denken lassen sich ideengeschichtlich darstellen als Veränderungen in den gegenseitigen Bezugnahmen dieser drei Ordnungen. Denn in den verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte (Antike, Mittelalter, der Neuzeit) übernimmt jeweils eine der drei Vernunftvorstellungen eine normative Leit- und Orientierungsfunktion gegenüber den anderen: in der Antike ist dies die objektive Vernunft des Kosmos, im Mittelalter ist dies die absolute Vernunft Gottes und in der Neuzeit die subjektive Vernunft des Menschen. Für die Geschichte der Selbstkonstitution der subjektiven Vernunft ist die Depotenzierung der objektiven und der absoluten Vernunft in der Neuzeit ausschlaggebend, deren Funktion die subjektive Vernunft nun selbst übernehmen muss. Die Moderne ist dadurch gekennzeichnet, dass die Vernunft in die Krise gerät und ihre Leitfunktion verliert.

2.1 Die Antike: der Primat der objektiven Vernunft

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Die vorchristliche Antike sah in der Welt eine anfangslose Ordnung walten. Sie war von Ewigkeit her und bedurfte zu ihrer Erklärung keines Ursprungs. Ihre Vernünftigkeit manifestierte sich in der Harmonie und Regelmäßigkeit der Naturvorgänge und in der Wohlgeordnetheit des Staatswesens. Wenngleich die konkreten Einzeldinge vergänglich sind, wird ihr Entstehen und Vergehen wie ihre Zusammenstimmung im Kosmos von diesen ewigen Ideen, dem ewigen Logos oder dem Nomos, dem Gesetz geleitet. Die subjektiv-menschliche Vernunft kann – wie auch immer – diese Ordnung erkennen, die sich in den Einzeldingen als Allgemeines zeigt, als Idee bei Platon oder als Wesen der Dinge bei Aristoteles. Kurzum: die sich in den Dingen und im Staatswesen manifestierende ewige Ordnung ermöglichte Weltorientierung und Welter-kenntnis der subjektiven Vernunft. Einer göttlichen Vernunft als ihres Ursprungs bedurfte die Ordnung der Welt nicht. Denn Gesetz, Struktur, Sinn, Norm oder Wesen der Welt sind immer schon in dieser Welt.

Die Parallelität von objektiver und subjektiver Vernunft wird unter dem Primat der objektiven Vernunft in der Antike mittels der Logos-Vorstellung garantiert. Dass die Wirklichkeit besteht, das wird in der Antike einfach hingenommen. Da sie in ihrer geordneten Faktizität als anfangs- und endlos und ihre Ordnung als ewig gedacht wird, erübrigt sich die Frage nach ihrem Ursprung. Wie sie ist und dass sie geordnet ist, das bedarf lediglich der Erklärung durch Verweis auf ihre logoshafte Vernünftigkeit, an der auch der Mensch selbst Anteil hat. Dasein und Sosein von objektiver und subjektiver Vernunft bedürfen mithin keines Bezuges auf ein Drittes, aus dem bei-de abgeleitet werden oder ihre Vernünftigkeit erst empfangen, auf das sie mithin in ihrer Vernünftigkeit auch permanent bezogen bleiben und dem sie ihre vernünftige Existenz insgesamt verdanken. Dies ändert sich mit der stoischen Philosophie und dann mit der Philosophie des Neuplatonismus, insbesondere PLOTINS, deren Deutungen des Logos die Anknüpfung an die Vorstellung eines christlichen Gottes als einer dritten, jetzt aber „absoluten Vernunft“, wesentlich ermöglichen.

2.2 Das Mittelalter: der Primat der absoluten Vernunft Gottes

2.2.1 Vom immanenten zum transzendenten Prinzip der Ordnung

Über die stoische Philosophie, die es zumindest für möglich gehalten hat, den Logos auch als Gott anzurufen wie auch über die Auseinandersetzung mit der hellenistischen Philosophie insgesamt, in der nicht vergessen war, dass Platon den Logos geradezu als Gott bezeichnet und Aristoteles den ersten unbewegten Beweger als Noesis Noeseos, als sich selbst denkendes und sich selbst erkennendes Denken, mithin als Vernunfttätigkeit im Sinne eines vollendeten Logos, bestimmt hatte, gewinnt der Logos-Gedanke auch Eingang in die Philosophie und Theologie des mittelalterlichen Christentums. Der Logos wandelt sich dabei von einem immanenten Prinzip des Weltgeschehens (wie noch in der Stoa) zu einem transzendenten, absoluten Prinzip. Dies geschieht wirkmächtig bereits im Prolog des Johannesevangeliums, wo Gott als präexistenter Christus und in Christus fleischgewordenes Wort als logos creator der Welt eingeführt wird: „Im Anfang war das Wort (lat. verbum, griech. logos), und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ Alles Sein erweist sich daher, so Tertullian, als in Gott vernünftig. Dabei ist vorerst, wie sich bei Augustinus zeigt, unausgemacht, mit welchem lat. Begriff das griech. Logos wiedergegebenen werden soll, ob mit ratio, mens oder intelligentia.

Die Herausbildung einer „absoluten Vernunft“ wird durch die Philosophie Plotins und den Neuplatonismus nochmals verstärkt. Denn an die Stelle einer statischen Auffassung des Logos tritt nun eine genetisch-dynamische, so dass das Schöpfungshandeln Gottes aus dem Nichts als in seinem Urgrund und seinem Vollzug vernünftiger Prozess darstellbar ist. Denn dass der Kosmos trotz seiner phänomenalen Vielheit, Verschiedenheit und der in ihm begegnenden Gegensätze ein harmonisches Ganzes bildet, eine als Logos bezeichnete objektive Vernunft, erklärt Plotin dadurch, dass der Kosmos aus einem höchsten Prinzip, dem unteilbaren Einen (to hen), als Ursache von allem entspringt, das als höchster Intellekt (nous) vorgestellt werden muss. Der Logos der Welt ist aus dem höchsten Intellekt ins Seiende gleichsam geflossen – als objektive Vernunft der Welt und als subjektive Vernunft des Menschen. Alles was am Logos teilhat, wird durch die Teilhabe am Logos gleichsam vernünftig gemacht und rational-geordnet geformt. Logos ist auch das Wesen der menschlichen Seele und fällt mit dem Ich zusammen. Als subjektive Vernunft ist sie jedoch ein diskursives Vermögen, das zwischen der reinen Erkenntnis des Intellekts und der sinnlichen Erfahrung vermittelt.

2.2.2 Christliches Welt- und Vernunftverständnis: Göttliche Ordnung und Freiheit des Menschen

Auf diesem geschichtlichen Hintergrund entwickelt sich das christliche Welt- und Vernunftverständnis. Denn neben der gleichsam objektiven Vernunft, die die Welt durchwaltet, und der subjektiven oder menschlichen Vernunft wird für die Entstehung des Ordnungszusammenhangs der Welt eine göttliche Vernunft verantwort­lich. Ewigkeit schreibt der jü­disch-christliche Glaube nur mehr Gott zu. Die Welt dage­gen wird aufgrund des Schöpfungsgedankens aus dem Nichts, wie er in der Genesis for­muliert ist, erstmals als radikal endliche vorstellbar. Sie hat einen geschichtlichen Anfang und ein verheißenes Ende. Die Dinge in ihr werden als vergänglich, wenngleich nicht ordnungslos vorgestellt.

Man kann mit Herbert Schnädelbach diesen Vorgang als die Subjektivierung der objektiven Vernunft bezeichnen: was vorher als Gesetz, Struktur, Sinn, Norm oder We­sen der Welt gedacht worden war, erhält nun ein personales Subjekt. Im christlichen Platonismus, der bis zur Aristoteles-Rezeption im 12. Jahrhundert die herrschende Philo­sophie des Mittelalters blieb, werden mithin die platonischen Ideen durchgängig als die Gedanken Gottes verstan­den. Diese Ideen im Intellekt Gottes sind gleichsam die Prinzi­pien und Grundsätze, nach denen Gott im Akt der Schöpfung allererst Ordnung, Sinn und Orientierung in die formlose Masse der Materie bringt. Von den christlichen Theo­logen wurde diese Sicht der Weltgenesis abgesichert durch Hinweis auf den Prolog des Johannes Evangeliums. Auf ihn nimmt auch Ecos Roman bereits im ersten Satz Bezug: „Im Anfang war das Wort (der logos, die Vernunft), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Dieses Wort, oder wir könnten besser sagen, dieser Logos oder diese Ordnung kam durch den Akt der Schöpfung allererst in die Welt, genauer: er be­gleitete den Prozess der Weltentstehung. Diese durch die göttliche Vernunft gesetzte Ordnung der Welt wird nun Maßstab der Erkenntnis und des Handelns der endlichen menschli­chen Vernunft.

Das eigentliche gegenständliche Korrelat der subjektiv-men­schlichen Vernunft bestand nun aber nicht in der Erkenntnis des Einzelnen, Singulären der empirisch erfahr­baren Welt. Eigentlicher Bezugspunkt menschlicher Erkenntnis war das hinter den Ein­zel­dingen waltende Allgemeine, die göttlichen, allererst Ordnung stiftenden Ideen, der göttliche Kosmos, der göttliche Verstand (intellectus divinus), an der Vernunft objekti­ven Halt, einen Maß­stab und das Urbild ihrer selbst fand. Die Möglichkeit dieser relecture der Natur unter Rückgriff auf die Ideen im Verstande Gottes, die ja eine gewisse Parallelität von göttlicher und men­schlicher Vernunft erfordert, war garantiert durch die biblische Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Sie manifestiert sich– so die griechischen Kirchenväter – im Besitz von Vernunft und Freiheit. Mit beidem ausgezeichnet zu sein, macht die besondere Würde des Menschen aus, wie insbesondere die Kapadozier, voran Gregor von Nyssa, eindringlich hervorheben.

Apropos Freiheit des Menschen: Diese Bezugnahme von göttlicher und menschlicher Vernunft zur objektiven Ver­nunft der Naturordnung waren der Grund, warum im Mittelalter in der von der Stoa und der Spätantike bestimmten Tradition  Ordnung und Freiheit als miteinander vereinbar ge­dacht wurden – und zwar mit einer Priorität für die Ordnung.

Freiheit konnte daher im Mittelalter nur bedeuten, innerhalb einer Ordnung – sei es der ewigen Schöp­fungsordnung als dem Gesetz Gottes, der lex dei, sei es der zeitlichen, sozialen, politi­schen oder kirchli­chen Ordnungen – die­ser Ordnung zu entsprechen oder nicht zu entsprechen. Freiheit im wahren Sinne also hieß für den mittelalterlichen Menschen, ge­mäß der von Gott gesetz­ten Ordnung zu sein und zu handeln. Der Ordnung zuwi­derhandeln bedeutete ein Defizit an Freiheit, nicht zuletzt deswegen weil Gott als die Ordnungssetzende Macht zur Auf­rechterhaltung dieser Ordnung unerbittlich zurückschlug: durch Krankheit, Leid und Tod. Sich in seinem Handeln von dem bestimmen zu lassen, was per se ungeordnet war und Unordnung verursachte – wie Triebe, Neigungen, Begierden etc. – verstieß ge­gen den ordnungsetzenden Willen Gottes und wurde daher als Sünde verworfen. Gleichzei­tig konnte sich der mittelalterliche Mensch nicht vorstellen, dass der endliche Mensch aus eigener Kraft die Ordnung des unendlichen Gottes durchbrechen konnte. Als eigentliche Ursache solcher Ordnungsverstöße wurden daher übermenschliche, quasi halbgöttliche Kräfte angenommen, Dämonen, Geister, Teufel, halb Geist-, halb Sinnenwesen. Der körperliche Leib, gleichsam Prinzip der Unordnung, war Einfallstor ihres Wir­kens. Der Inquisition und ihren Scheiterhaufen fiel die Aufgabe zu, durch physische Befreiung des Menschen von den Dämonen die alte Ordnung wieder herzustellen und den Menschen wieder in den Stand der Freiheit zu versetzen (mochte er davon auch nicht mehr viel ge­habt haben).

Freiheit Gottes: Auch die Freiheit Gottes selbst war gemäß diesem Topos ge­dacht und bildete darum kein besonderes Thema. Gott handelt im­mer und notwendig gemäß seinem We­sen, da in Gott Sein und Wir­ken, Vernunft und Wille, Weisheit und Macht, mithin auch Ordnung und Freiheit identisch sind. Eben darin, dass Gott rein seiner Weisheit und Güte gemäß handelt, besteht die göttli­che Freiheit. Freiheit und Allmacht Gottes können gar nicht anders denn als ein Handeln ordinate, d.i. gemäß der ewigen Schö­pfungsordnung, ver­standen werden. Es ist schlechthin nicht denkbar, dass Gott außer der ewigen Ord­nung handelt. Die gött­liche und ewige Ordnung der Idee, so könnte man sagen, ist die ranghöhere Reprä­sentanz des Wesens Gottes als die Freiheit. Bezo­gen auf die unterstellten Vernunftver­mögen Gottes könnte man sagen: Der göttliche Verstand oder Intellekt dominiert den göttli­chen Willen (Intellektualismus).

Für die menschliche Vernunft war damit Ordnung der Welt garantiert: denn Gott war kein Chaos- oder Willkür-Gott, er schaffte die Welt nicht willkürlich, sondern nach Gesetzen, d.h. mithin geordnet. Kurzum die menschliche Vernunft fand in der Ordnung der Natur für ihre Erkenntnis einen sicheren Anhalt.

2.2.3 Das Zerbrechen des Ordo-Denkens im spätmittelalterlichen Nominalismus

Dieser geschöpfliche Ordnungszusammenhang zwischen absoluter Vernunft Gottes, objektiver Vernunftordnung der Welt und subjektiver Vernunft des Menschen zerbricht seit dem 11. Jahrhundert am Streit um die Allmacht Gottes, wie sie im ersten Satz des christlichen Glaubensbekenntnisses (credo in unum deum omnipotentem) formuliert ist.

Die omnipotentia dei stellt deshalb ein Problem dar, weil durch sie auch die absolute Freiheit Gottes gefordert wird, sofern Allmacht auch in der Freiheit bestehen müsste, unabhängig von den Vorgaben des göttlichen Intellekts Widervernünftiges wollen zu können. Dem aber steht die Bindung des göttlichen Schöpfungshandelns an den Intellekt entgegen, die die Freiheit und Allmacht Gottes in seinem Schöpfungshandeln beschränkt. Im Streit zwischen Intellektualismus und Voluntarismus in der Gotteslehre, bei dem es um die Frage ging, ob der Wille (voluntas) Gottes seiner Vernunft (intellectus) untergeordnet sei (Thomas von Aquin und der christliche Aristotelismus) oder dem Primat des göttlichen Willens folgend der Akt der creatio ex nihilo als ein bloßes fiat zu deuten sei, setzt sich mit Wilhelm von Ockham und Duns Scotus im 13. und 14. Jahrhundert die Willens-Theologie durch und führt in der Philosophie zum spätmittelalterliche Nominalismus (universalia sunt post rem und ontologisch nur mehr flatus vocis), der den mittelalterlichen Universalien-Idealismus und -Realismus (universalia sunt ante rem bzw. in rebus) ablöst. Denn das, was Gott getan hat oder tut, hat er getan und tut er, alleine weil er es wollte oder will. Es ist daher gut und gerecht, allein weil er es gewollt hat („eo ipso quod ipse vult, bene et iustum factum est“), nicht mehr, weil sich in ihm die widerspruchsfreie Ordnung eines intellectus divinus manifestiert.

Damit schlägt „der Vorrang des Interesses an der Rationalität der Schöpfung und ihrer humanen Intelligibilität“ um „in die spekulative Faszination durch das theologische Prädikat der absoluten Macht und Freiheit“. Die Konsequenzen eines nun unter dem Primat des allmächtigen Willens und nicht mehr unter der allweisen Vernunft Gottes stehenden Schöpfungsordnung sind für das menschliche Erkennen und Handeln folgenreich. Auch wenn der nominalistische Gott nicht einfach ein Willkürgott ist, schon gar nicht, wie Descartes dies überspitzend im Gedankenexperiment des methodischen Zweifels durchexerziert, ein den Menschen täuschender genius malignus, ein Betrügergott, sondern sein facere de potentia absoluta in der Regel immer auch ein facere de potentia ordinata sein wird, wie aufgrund der Güte seines Willens zu erwarten sein darf, so ist doch der menschlichen Vernunft die Gewissheit genommen, dass eine absoluter Wille die Welt immer und ausnahmslos als Ordnungszusammenhang erschaffen hat. Damit wird auch die bisherige Gewissheit fraglich, ob die subjektive Vernunft die gegebenenfalls gar nicht mehr durchgängig anzunehmende objektive Vernunft der Welt überhaupt noch rein aus Begriffen rational rekonstruieren kann. Weil die Welt ggf. irrational geworden ist und auch Gott sich ggf. über alles hinwegsetzen kann, dann ist der Mensch, will er überhaupt Halt, Orientierung und Ordnung finden, auf seine eigene subjektive Vernunft zurückgeworfen, die nun Ordnungen allererst selbst erzeugen und setzen muss.

Kurzum: Das eigenwillige Denken Ockhams führt zur Auflö­sung des mittelalterlichen Kosmos und begründet gleichzeitig das Selbstverständnis des neuzeitlichen und modernen Menschen. Der geschöpfliche Ordnungszusammenhang zwischen Ver­nunft Gottes, objekti­ver Vernunftordnung der Welt und subjekti­ver Vernunft des Menschen bricht mithin bereits gegen Ende des Mittelalters, genauerhin im sog. spätmittel­alterli­chen Nominalismus wirkmächtig auseinander.

Sie können erahnen, welche Bedeutung Ockhams theologisch motivierte Philosophie nicht nur für die Entwicklung von Wissen­schaft und Erfahrungserkenntnis, sondern auch für die Geschichte des Freiheitsdenkens der Neuzeit hat.

Ockham denkt die Freiheit des Menschen analog zur Doppelstruk­tur der Freiheit Gottes. Zu dieser Übertragung sieht er sich wie­derum berechtigt durch die Lehre von der Gotte­benbildlichkeit des Menschen.

Für jedes Wesen, also auch für den Menschen gilt, so Ockham, dass ein facere ab­solute, d.i. ein Handeln ursprünglicherweise, und ein fa­cere ordinate, d.i. ein Handeln geordneterweise, unterschie­den werden müssen. Doch beide Qualitäten des Handelns, das Han­deln aus reiner Freiheit und das Handeln gemäß naturalen und so­zialen Ordnun­gen sind aufeinander verwiesen: das erste ist der Grund des zweiten. Freiheit ist der Grund von Ordnung. Ein Han­deln ge­mäß einer Ordnung – wenn es freies Handeln sein soll -, muss in einem ursprünglichen Handeln aus reiner Freiheit gegrün­det sein; dieses freie Handeln aber realisiert sich nicht gleichsam „absolutistisch“, sondern als Erzeugung von Ordnung. Die Freiheit ist also, so könnte man sagen, der Legitimationsgrund der Ord­nung. Der Sinn der Ordnung wiederum ist die Vermittlung und Re­alisierung von Frei­heit.

Legitime Ordnung entstammt einem Akt der Freiheit; sie ist eine durch Freiheit und in Freiheit gesetzte Ordnung. Eine Hand­lung entspricht dem sittlichen Anspruch nicht allein dadurch, dass sie der materiellen Norm der Ordnung konform ist, sondern dass die so bestimmte Handlung gewollt ist. Sittlichkeit ist nicht ledig­lich Nor­merfüllung, sondern darin immer auch freie Anerkennung jener Freiheit, welche die Ordnung gesetzt hat.

2.3 Die Neuzeit:  der ordnungssetzende Primat der subjektiven Vernunft des Menschen

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

2.3.1 Konsequenzen des nominalistischen Vernunftbegriffs für die Beziehung von Vernunft und Freiheit in der Neuzeit

Welche Konsequenzen hat der nominalistische Ver­nunft- und Freiheits­begriff für die Entstehung und den Gang der Neuzeit.

Ockhams Nominalismus dominierte im 14. und 15. Jahrhundert fast alle europäischen Universitäten und fand damit zu Beginn der Neuzeit Eingang in fast alle Bereiche des Lebens. Der Reformation kommt in diesem Transferprozess eine bedeutende Rolle zu. Luther hat Ockham als den größten „Dialektiker“ und als seinen Meister betrachtet. Aus Ockhams Philosophie nahm Luther das Rüstzeug, um dem Bekenntnis und dem Gewis­sen des einzelnen einen Vorrang vor der kirchlichen Ordnung zuzuerkennen. Das sola-gratia-Argu­ment, das da lautet: Gott rechtfertigt nur aus reiner Gnade, der Mensch kann hierzu nichts beitragen, erforderte eine Neuformulierung der Lehre von der ab­soluten Freiheit und All­macht Gottes. Gleichzeitig wird Luthers Feindschaft gegen die „Bestie Vernunft“ verständlich, die zur Gotteserkenntnis und zur Erkenntnis der Dinge, wie sie in der Wirklichkeit vorliegen, nichts mehr beiträgt.

Für Neuzeit und Moderne wurde entscheidend, dass der Säkularisierungsprozess die Dominanz der Gottesfrage zunächst einschränkte und schließlich beendete. Die Theologie musste ihre führende Position unter den scientiae an die Philosophie und an die neu entstehen­den Wissenschaften abgeben. Der Grund war nicht zuletzt der, dass sie kein gesichertes Wis­sen mehr über Ordnung und Ursprung der Welt anbieten konnte. So wurde der Weg frei zu einer Universalisierung des Freiheitsgedankens. Die im Prozess der Säkularisierung der Vernunft freiwerdende Stelle Gottes nahm diese selbst ein.

Die Vernunft ist, so kann man sagen, im Lauf der Neuzeit die Instanz für jedwede Ord­nungssetzung gewor­den. Sie ist es, die – unabhängig von göttli­cher und natürlicher Ordnung – das Gesetz gibt. Sie ist der neue Ursprung und der souveräne Urheber jedweder Ordnung und le­gi­timen Gesetzlichkeit. Sie setzt sich in der Aufklärung frei von religiösem Glauben und kirchlicher Autorität zugunsten einer Religion der Vernunft. Sie setzt sich frei von der Metaphysik zugunsten einer reinen Vernunftphilosophie, sei es in Gestalt rationalistischer oder empiri­scher Philosophie, sowie zugunsten der neuen Wissenschaften. Sie setzt sich frei von theologi­scher Morallehre zugunsten einer Ver­nunftethik. Diesen Freisetzungen ließen sich noch viele anfügen: im Bereich der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, der Gesellschaft.

Diese Freisetzungen haben nur selten die Tendenz zur Willkür, zum Chaotischen oder Anarchischen: Generell begreift sich die Vernunft als die neue Gesetzgeberin, die von den alten Instanzen, nämlich Theologie und Metaphysik, die Gesetzgebungskompetenz übernommen hat. Die Freiheit als Autonomie wird zu einem universellen Problem. Die aus der Vernunft als Freiheit hervorgehenden Gesetze sind gegenüber denen der alten Instanzen neue Gesetze, und es sind strenge Gesetze. Die Vernunft selbst unterwirft sich dem von ihr selbst gegebenen Gesetz; sie stellt z. B. die Philosophie und die neuen Wissenschaften unter die methodischen Forderungen des mos geometricus.

Schon bevor die Freiheit von Kant als sittliche Autonomie ausformuliert wurde, war der Prozess, die Freiheit als Ursprung der Ordnungen zu begreifen, in Gang gekommen:

2.3.2 Subjektive Vernunft als autonom ordnungssetzende Vernunft

Überhaupt fällt in der Neuzeit der auf sich selbst gestellten subjektiven Vernunft mehr und mehr die Funktion der primordialen Ordnungssetzung zu, eine Funktion, die im Mittelalter der absoluten Vernunft Gottes vorbehalten war. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen in die Vernünftigkeit der ehedem objektiven Vernunft des Kosmos. Konsequenterweise wandelt sich auch die Vorstellung von der besonderen Dignität des Menschen. Sie besteht nicht mehr darin, Vernunft und Freiheit als Ebenbild Gottes zu besitzen, sondern autonomes, der unbegrenzten Perfektibilität fähiges vernünftig-sittliches Subjekt zu sein. Indirekt bestätigt sich darin jedoch der Ertrag des Gottebenbildlichkeitsgedankens, nämlich subjektive und absolute Vernunft durch Analogisierung ihrer Vermögen Intellekt und Wille und deren Leistungsfähigkeit zu strukturieren, in seiner spätmittelalterlichen voluntaristischen Variante in eigentümlicher Weise, wenn auch mit entgegengesetzter Stoßrichtung. Aus der im Kern anthropomorphen vermögenstheoretischen Einsicht „wie die Vermögen des Menschen, so die Gottes!“, ist mit Bezug auf den Leistungsanspruch einer allererst ordnungssetzenden autonomen Vernunft die theomorphe Annahme geworden: „wie die Vermögen Gottes, so die des Menschen!“. Nicht Christus ist, wie Philon von Alexandrien noch meint, ein zweiter Gott, sondern der vernunftbegabte Mensch selbst wird in der Renaissance seiner rationalen Leistungsfähigkeit wegen wie ein secundus deus betrachtet. Freilich muss dem freien Handeln der subjektiven Vernunft im Sinne des facere de potentia absoluta auch ein Vernunfthandeln im Sinne des facere de potentia ordinata folgen. Endliche, auf Erfahrung bezogene subjektive Vernunft wird dadurch zwar nicht zur absoluten, die Welt aus dem Nichts schaffenden und in ihrer Ordnung selbst bestimmenden Vernunft, sie wird aber zur „autonomen“, über die gegebene Welt nach Regeln reflektierenden und in ihrem Handeln Ordnungen setzenden, endlichen Vernunft: Sie erweist ihre Freiheit vor allem dadurch, dass sie sich selbst die Gesetze des Erkennens und Handelns gibt und diesen darin auch folgen kann, indem sie die Natur als für ihre Zwecke geeignet beurteilt. In Kants Vorstellung des Menschen als eines zwar naturgebundenen, mithin immer endlichen, aber gleichwohl zum Aktus der Selbstbestimmung durch moralisch-praktische Vernunft fähigen Wesens kommt diese Entwicklung zu einem gewissen Abschluss.

Im Zeitalter der Aufklärung wird die subjektive Vernunft gleichzeitig das Gegenprinzip gegen die Autoritätsansprüche der Tradition ebenso wie gegen die der Offenbarungsreligion. Vernunft wird zum Zentralbegriff der „Aufklärung“ überhaupt. Denn als wahr und verbindlich erkennt sie nur das an, was sich im Licht des eigenen Denkens und Erkennens als solches erweist. Dies setzt freilich eine Selbstvergewisserung der Leistungsfähigkeit der nun auf sich selbst gestellten subjektiven Vernunft voraus. Ihr Maßstab ist sie selbst und nicht mehr eine objektive oder absolute Vernunft. Ihr bleibt daher nur mehr die Selbstkritik, weil sie keinen Maßstab mehr außerhalb ihrer selbst haben kann. Bei diesem Geschäft ist sie kritisierende wie kritisierte Vernunft in einem. Dass die Vernunft einer solchen Kritik bedarf, das ist schon deswegen notwendig, weil der totalisierende Selbstbezug der Vernunft, zu dem sie dialektisch neigt, auf unaufhebbare Widersprüche und „Antinomien“ führt, mit denen die endliche Vernunft in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch umzugehen lernen muss. Kants Konzeption einer Kritik der endlichen Vernunft, die sich ihrer Leistungsfähigkeit versichern muss, wird damit zum Angelpunkt des neuzeitlichen und Abstoßungspunkt des modernen Vernunftverständnisses. Sie ist Reaktion einerseits auf die Unterforderung der Vernunft, wie sie sich in der Reduktion von Vernunft auf Verstand im Empirismus zeigt, anderseits auf die Überforderung einer Vernunft, die der Sinnlichkeit und der Erfahrung nicht bedarf, wie dies im Rationalismus des 17. und 18. Jh. der Fall ist.

2.3.3 Kant und die organologisch verfasste endliche Vernunft des Menschen

Kants Vorstellung von Vernunft ist der wichtigste Versuch einer Systematisierung des neuzeitlichen Vernunftverständnisses. Für Kant ist Vernunft ausschließlich die endliche Vernunft des Menschen, mithin dasjenige, „nach dessen ausführlicher Kenntnis ich nicht weit um mich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe“

Vernunft als das Vermögen apriorischer und folglich rein begrifflicher Erkenntnis überhaupt ist Orientierungspunkt von Denken und Handeln und denknotwendige Voraussetzung sinnvoller Welterschließung, die jeder Art von Erkenntnis als auch jeder Erfahrung als Möglichkeitsbedingung vorausliegt. Vernunft kann daher auch als das „Vermögen der Regelhaftigkeit, Ordnung und Systematizität für Erkenntnisse überhaupt“ bestimmt werden. Ihrer Wirkweise nach ist sie ein zwecksetzendes, spontanes und autonomes Vermögen. Ihrer Struktur nach ist sie organologisch verfasst, denn wie in einem Organismus ist jeder Teil „Zweck und wechselseitig auch Mittel“. Als solche bildet sie die Grundlage der von Kant angestrebten Neufundierung einer Vernunftmetaphysik als systematischer Wissenschaft, die „nichts als das Inventarium aller unserer Besitze der reinen Vernunft, systematisch geordnet“ enthält.

Vernunft als ein Vermögen, dessen Wesen gerade im Überschreiten naturhaft bedingter Konstellationen sowie des Sich-Distanzierens von der Sinnlichkeit besteht, ist selbst ein spontanes Vermögen, das seiner eigenen, selbstgegebenen Regeln mächtig ist und sich nur diesen unterwirft. Sie muss mithin als reine Selbsttätigkeit begriffen werden. Insofern ist sie ein völlig autonomes Vermögen auch insofern, als es das „ursprüngliche Recht der Vernunft“ ist, „keinen anderen Richter […] als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft“ als Instanz, der ihre Entwürfe verpflichtet sind, anzuerkennen. Denn Vernunft kann nicht mehr von einem vorgeordneten Prinzip deduziert werden, ohne ihre eigene Letztheit und damit sich selbst zu zerstören.

3. Die Moderne und die Krise von Vernunft und Freiheit

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Kants Philosophie einer endlichen Vernunft ist der Höhepunkt des neuzeitlichen Vernunftdenkens. Sie bleibt positiver wie negativer Bezugspunkt aller Vernunftkonzeptionen des 19. und 20. Jhs.. Ab dem 19. Jahrhundert jedoch bricht philosophiegeschichtlich nach der Frühen Neuzeit die Moderne an. Die Vernunft gerät im Verlaufe der Moderne zunehmend in die Krise: sie unterliegt einer zunehmende Depotenzierung und Entmächtigung. Die Moderne ist, so könnte man sagen, die Zeit der Krise der Vernunft. Dass die Vernunft seit dem 19. Jahrhundert in eine solche Krise gerät, ist Reflex ihrer Verabsolutierung im Deutschen Idealismus. Diese Entwicklung lässt sich in acht Entwicklungsschritten darstellen.

3.1 Verabsolutierung der Vernunft im Deutschen Idealismus

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

In einem ersten Entwicklungsschritt, der sich im Rahmen der Philosophie des Deutschen Idealismus ereignet, wird die Vernunft verabsolutiert, was zu einer Überforderung der endlichen Vernunft führt. Im Bestreben, einen absoluten Geltungshorizont, das „absolute Wissen“, zu gewinnen, gehen J. G. Fichte, F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel in der Bestimmung der Leistungsfähigkeit der Vernunft weit über das hinaus, was endliche Vernunft nach Kant überhaupt leisten kann. Die objektive Vernunft der Welt wird durch die subjektive Vernunft, die sich absolut wähnt, erst grundgelegt. Dies gelingt ihr nur, indem sie gleichsam die Funktion der ehedem absoluten, göttlichen Vernunft übernimmt. Im Deutschen Idealismus, so könnte man zusammenfassen, gewinnen „Vernunft“, „Ich“ oder „Geist“ die Bedeutung eines allumfassenden Prinzips. Vom dem einen Prinzip her wird das Ganze konstituiert und transparent gemacht. Das Prinzip der Subjektivität wird im Akt der Selbstreflexion gleichsam zum Weltprinzip und in diesem Sinn zum absoluten Prinzip – als absolutes Ich, absolute Vernunft oder absoluter Geist.

3.2 Depotenzierung der Vernunft durch externe Reduktion: das „Andere der Vernunft“

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Der Verabsolutierung und Selbstüberforderung der Vernunft im Deutschen Idealismus folgt im 19. und 20. Jh. entweder die weitgehende Rückkehr zur Kantischen Vernunftkonzeption wie etwa im Neukantianismus, oder eine facettenreiche Vernunftkritik, die die Depotenzierung, Relativierung oder gar Aufhebung der Vernunft überhaupt intendiert. Sie entspringt einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber jedem Orientierungsanspruch, der mit dem Verweis auf Vernunft verbunden ist und der als per se anmaßend zurückgewiesen wird. Die Kritik richtet sich nicht nur gegen das offensichtlich überzogene Vernunftverständnis Hegels, sondern ununterschieden auch gegen das Vernunftverständnis der Neuzeit insgesamt, das wiederum weitgehend mit Kants Konzept einer autonomen subjektiven Vernunft gleichgesetzt wird, wobei der Kantische Autonomiegedanke der Vernunft als absolute Vernunftautarkie missverstanden wird. Jedenfalls führe, so ist man allgemein der Überzeugung, die Autonomie der neuzeitlichen Vernunft zu einer Omnipotenzanmaßung und Selbstüberforderung des neuzeitlichen Subjekts, das sich mithilfe des Verweises auf die absolute Leistungsfähigkeit und Autonomie der Vernunft selbst vergötze und so am Ende der Neuzeit in den Abgrund führe. Die Existenz einer autonomen Vernunft sei – so der generelle Vorwurf – schon deshalb eine Illusion, weil Vernunft sich im Sinne einer Epiphänomenalisierung auf vorbegrifflich-präreflexive Strukturen und Impulse, mithin auf das außer ihr liegende „Andere der Vernunft“, das selbst irrational ist, zurückführen lasse, ebenso wie sich ihr Orientierungsanspruch historisieren lasse. Um die Endlichkeit des Menschen zu retten, verabschiedet sich das nachidealistische Denken von nichts weniger als der Vorstellung einer essentiellen Bestimmung des Menschen durch Vernunft.

In der Frühromantik (J. G. Hamann, J. G. Herder, F. H. Jacobi) deutet sich dieser Depotenzierungsprozess der Vernunft bereits an. Die Psychologisierung der Seelenvermögen im 19. Jh. subsumiert die Leistungen, die traditionell der Vernunft und dem Verstand zugeschrieben wurden, unter die Vielzahl der psychischen Vorgänge und Fähigkeiten und nimmt ihnen damit ihren Sonderstatus. Nach Eduard von Hartmann hat die Vernunft ihre Wurzeln im Unbewussten der Gefühle und Triebe. Nach Heinrich Lotze wurzelt Vernunft gar gänzlich im Gefühl.

Beginnend mit Arthur Schopenhauer wird in der Mitte des 19. Jh. der Irrationalismus in der Metaphysik zur herrschenden Strömung. Sie stellt nicht nur die Annahme einer objektiven Vernunft der Welt, sondern auch die rationale Leistungsfähigkeit der subjektiven Vernunft wirkmächtig in Frage. An die Stelle der Vernunft tritt der Wille als ein dunkler und blinder Drang, der in der Natur und im Menschen als grundloser, nur sich selbst wollender Wille zum Leben alles andere, vor allem aber die subjektive Vernunft dominiert.

Vernunft wird dabei lediglich als bloßes Begleitphänomen zugrundeliegender natürlicher, psychischer oder sozialer Prozesse gedeutet. Freuds Psychoanalyse, Max Webers Soziologie der Rationalisierung und Niklas Luhmanns Theorie der Systemrationalität könnte man hier ebenfalls als Beispiele anführen. Es geht immer um die Reduktion von Vernunft auf ein Epiphänomen eines anderen. Selbst das Basis-Überbau-Modell von Karl Marx wurzelt in Anlehnung an Ludwig Feuerbachs Projektionstheorie auf einer funktionalistisch-kompensatorischen Sicht menschlicher Vernunft, die als noch nicht zur Wissenschaft gekommene, mithin sich als Epiphänomen der materialistischen Basis verstehende, unaufgeklärte Vernunft dazu neigt, die realen Produktionsverhältnisse in einem vernunftgestalteten Raum des Rechts, der Moral und der Kunst als vermeintliche Wirklichkeiten widerzuspiegeln, um das Basisphänomen, d. h. die realen wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, dadurch ggf. aushaltbar zu machen.

Ähnliches gilt auch für das Vernunftverständnis Friedrich Nietzsches, über dessen „Wille zur Macht“ der Gedanke einer „Abwertung der traditionellen Vernunftmetaphysik zugunsten einer Metaphysik des Lebens“ zur Grundlage seiner Lebensphilosophie wird, die dann im 20. Jh. in den Existenzialismus überleitet. Nach Nietzsche basiert die Vorstellung von einer Vernunftbestimmung des Menschen wie jede Orientierung an einem Absoluten, Unbedingten und Verbindlichen auf einem lebens-, vor allem leibfeindlichen, falschen menschlichen Selbstverständnis, dessen Illusionscharakter er „genealogisch“ freilegen will. Nietzsche wörtlich: „es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner Vernunft“.

3.3 Depotenzierung der Vernunft durch interne Reduktion: Vernunft als Verstand

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Eine dritte Tendenz der nachkantischen und nachidealistischen Philosophie der Vernunft besteht darin, Vernunft einer gleichsam internen Reduktion auf eine ihrer Dimensionen zu unterziehen. Übrig bleibt freilich nur mehr ein „Vernunfttorso“. Dies begegnet etwa wirkmächtig in M. Webers Reduktion der Vernunft auf „Zweckrationalität“. O. Höffe und J. Habermas sehen in solchen Rationalitätskonstruktionen zurecht eine „‚positivistisch halbierte‘ Rationalität“.  M. Horkheimer hebt daher konsequenterweise zu einer fundamentalen Kritik der instrumentellen Vernunft an. Denn zweckrationale Vernunft ist rein formale und formalisierte Vernunft, die sich „keine inhaltlichen Ziele“ mehr setzt und sich nicht mehr orientiert an einer „objektiven“ Vernunft, die „ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten“ in der Lage wäre. Sie ist inhaltsleer und degeneriert zum bloßen „Organ der Kalkulation und des Planens“. Sie ist formal, quantifizierend, verdinglichend, daher auch egalisierend und uniformisierend und auf Anpassung wie Manipulation gleichermaßen getrimmt. Sie ignoriert die Frage nach der Einheit von Vernunft und Natur, wie sie überhaupt alle Sinnfragen ausklammert, indem sie diese als „metaphysischen Unsinn“ abtut. Diese Selbstentzauberung der Vernunft laufe daher, so Habermas, auf ihre Selbstzerstörung hinaus. Denn: „Nachdem sie die Autonomie aufgegeben hat, ist die Vernunft zu einem Instrument geworden.“ Zudem mache die Exklusion des Nicht-Identischen, Ungleichen, Nicht-Berechenbaren die subjektive Vernunft autoritär und totalitär und führe zur Herrschaft des Unmenschlichen, Unkultivierten, Barbarischen, Irrationalen, also zur Herrschaft dessen, gegen das die Aufklärung angetreten war. Dies gerade mache die „Dialektik“ einer zur Zweckrationalität verkürzten Vernunft aus.

3.4 Das Selbstmissverständnis der Vernunft als „absolute Freiheit“: Moderne als Imperativ des Wandels

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Auf eine vierte Tendenz in der Moderne möchte ich noch Verweisen: nämlich dem Missverständnis der Vernunft als „absolute Freiheit“. Dass die Vernunft in der Neuzeit die potentia absoluta in Anspruch genommen hat, bedeutet, dass sie für alles das Gesetz gibt. Wird diese Autonomie jedoch nicht transzendental als primäre Bedingung von Ordnung verstanden, sondern geschichtlich-zeitlich, so folgt, dass die Ver­nunft sukzessiv und kontinuerilich andauernd neue Gesetze und Ordnungen produzieren muss, will sie ihre Wirk­lichkeit unter Beweis stellen. Freiheit ist dann nicht verstanden als die Einheit von ur­sprünglichem und geord­netem Handeln, sondern als das Machen von Neuem, als Mo­dernität des Faktischen. „Veränderung“ wird zu einem Wert an sich, und geschichtliche Geltung kann nur das Neue, das Moderne beanspru­chen. Man könnte fast von einer Tyrannei des Neuen und Modernen sprechen, dessen Gutheit allein schon darin gesehen wird, etwas Neues zu sein. Doch mit welchem Ziel?

Der Münchner Philosoph Hermann Krings spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „Selbstmissverständnis der Vernunft als absolute Freiheit“ in der Moderne. Denn mit diesem Missverständnis des Unbe­dingtheitscharakters der Freiheit setzt sich die Vernunft unter einen fatalen Zugzwang. Denn nun kann sie nur dadurch, dass sie immer Neues hervor­bringt, ihr Wesen als absolute Freiheit erwei­sen. Sie muss Neues hervorbringen, wenn sie das sein will, was zu sein sie beansprucht. Sie ist – will man ein Wort von Jean-Paul Sar­tre abwandeln, zum Neuen „verdammt“. Denn das Nicht-Neue oder gar das Alte steht per se im Verdacht, einem anderen Gesetz zu gehorchen, das nicht der Freiheit ent­stammt, sondern der Kon­vention, der Institution, der Utilität, der Tradition.

Das historische Selbstmissverständnis der modernen Vernunft führt dahin, dass sie ihren absoluten Anspruch nur dadurch einlösen kann, indem sie immer neue Gesetze hervor­bringt, neue Strukturen erzeugt. Diese unendliche Progressivität hat nicht ein Ziel; sie ist bedingt durch einen missverstandenen Absolutheitsanspruch der Freiheit.

Wir haben mit dem Begriff der Freiheit, so wie er sich im spätmittelalterlichen Nominalismus erstmals zeigt, mithin auch seine Aporien geerbt. Sie werden nur vermieden, wenn Freiheit und Gesetz, Freiheit und Ordnung aufeinander bezogen bleiben: als Autonomie. Denn Freiheit ohne Gesetz und Ordnung, Moderne als beständiger Imperativ des Wandels, ist Anarchie, Chaos und Willkür. Übrigens: Weil wir das intuitiv vermuten, führen wir in der Moderne seit dem 19. Jahrhundert gleichsam durch die Hintertür metaphysische Ersatzgrößen ein, deren Vernünftigkeit wir freilich nicht ausweisen können: Wir hoffen auf die „invisible hand“ hinter dem unregulierten Marktgeschehen; wir hoffen darauf, dass uns die öffentliche Meinung als Indiz der Wahrheit dient und ersparen uns durch Verweis auf sie die Anstrengung des demokratischen Diskurses; wir ersetzen den komplizierten, durch eine Vielzahl von Vernunftabwägungen zu findenden Gerechtigkeitsgedanken durch den vermeintlich eindeutigen Gleichheitsgedanken; wir orientieren uns nicht an dem, was sich vernünftig als das Gute erweisen lässt, sondern an dem, was die Mehrheit macht. Und wir akzeptieren in Form einer internalisierten Inquisition Diskursverbote, die nicht an der Wahrheit orientiert sind, sondern an dem Schaurigen, das als „political correctness“ daherkommt. Der „Schlaf der Vernunft“ ist längst angebrochen. Und er gebiert Ungeheuer. Wir leben – wie schon Kant sagt – zwar in einem Zeitalter der Aufklärung, aber noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter.

3.5 Die Entmächtigung der Vernunft als Dialektik der Aufklärung

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Für das Modernebewusstsein ist die Überwindung von Neuzeit und Aufklärung typisch. 1944 haben Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ eine wirkmächtige Kritik an Neuzeit und Moderne formuliert. Sie argumentieren, dass die Aufklärung, die ursprünglich als Befreiung von Aberglauben und Unwissenheit gedacht war, sich selbst in ihr Gegenteil verkehrt hat. Sie führen dies auf den instrumentalen Charakter der Ver-nunft zurück, der sich im Kapitalismus besonders manifestiert. Die Aufklärung habe die Vernunft entgegen ihrer ursprünglichen Absicht zu einem Instrument der Herrschaft gemacht. Sie werde eingesetzt, um die Natur und die Gesellschaft zu beherrschen und zu kontrollieren. Dies führe zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst und seiner Umwelt. So habe Aufklärung nicht nur Fortschritt, sondern auch Rückschritt gebracht. Sie verweisen auf die Entstehung totalitärer Regimes im 20. Jahrhundert, die sich auf die Vernunft berufen haben.  Jedes moderne Bewusstsein müsse daher Neuzeit und Aufklärung hinter sich lassen.

3.6 Die zweiten Moderne nach dem Zusammenbruch der ersten Moderne

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Weil die Orientierung der ersten Moderne zur Zeit der Neuzeit und der Aufklärung durch ihre Vernunftorientierung in die Krise geführt habe, müsse diese im Kern europäische Vernunftvorstellung in einer zweiten Moderne überwunden und durch andere Orientierungsgrüßen ersetzt werden.

Der Begriff Zweite Moderne wurde nach dem angeblichen Zusammenbruch einer sogenannten alten Ordnung der Ersten Moderne von Heinrich Klotz Anfang der 1990er Jahre für die Kunst und Architektur der Gegenwart geprägt. Der Begriff wurde dann vom deutschen Soziologen Ulrich Beck für seine Thesen verwendet, dass sich im Zuge der unrevidierbaren Globalisierung sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich-politisch die Welt radikal verändert habe. Die für die erste Moderne kennzeichnende Nationalstaatlichkeit habe sich damit erledigt.  Im Zuge dieser Entwicklung erhalten demnach die transnationalen Konzerne zunehmend Macht, wohingegen die Macht der Nationalstaaten in Relation dazu immer weiter abnehme, der Nationalstaat also an Souveränität verliert. An seine Stelle trete die Weltgesellschaft. Dies bringe eine Zunahme von Problemen mit sich. Diese Entwicklungen zu einer Welt-Moderne vollziehen sich aber auch innerhalb der Gesellschaften. Nach Charles Taylor werden alle Gesellschaften in „zunehmendem Maße multikulturell und zugleich durchlässiger. Beide Entwicklungen vollziehen sich nebeneinander. Durchlässigkeit bedeutet, dass die Gesellschaften offener für multinationale Wanderungsbewegungen sind; immer mehr Menschen innerhalb dieser Gesellschaften führen ein Leben in der Diaspora, dessen Mitte woanders liegt

Die Kernfrage der Zweiten Moderne ist die Suche nach Lösungen für die entstehenden Herausforderungen durch Globalisierung, Flexibilisierung, zunehmende Arbeitslosigkeit, Umweltbelastung sowie die Erosion funktionierender politischer, sozialer und kultureller Systeme.

Ulrich Beck will mit seinen Ausführungen den Blick für ein Neues und die damit verbundenen Probleme schärfen. Das Neue, das sich in der westlichen, kapitalistischen Gesellschaft abzeichnet, wird von mehreren weiteren Soziologen beschrieben – z. B. von Daniel Bell und Anthony Giddens. Charakteristische Schlagworte sind beispielsweise das von Jürgen Habermas geprägte der „neuen Unübersichtlichkeit“, der von Ulrich Beck verwendete Terminus „Risiko-Gesellschaft“ und der Ausdruck flexibler Mensch, der von Richard Sennett stammt. Ulrich Beck und die Autoren der Edition Zweite Moderne haben die Hoffnung, dass es den Menschen gelingen werde, ihre Zukunft dadurch vernünftig zu gestalten, dass auf der Grundlage einer Analyse der gegenwärtigen (globalen) Probleme Verbesserungsansätze entwickelt werden.

3.7 Die Auflösung des Vernunftsubjekts in der Postmoderne

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Eine Reduktion der neuzeitlichen Vernunft bis hin zum Verschwinden des autonomen Vernunftsubjekts selbst liegt auch der Philosophie der sog. Postmoderne zugrunde, wie sie bei Ihren wichtigsten Vertretern (Gianni Vattimo, Jean-François Lyotard, Michel Foucauld, Wolfgang Welsch) seit den 1980er Jahren begegnet.

Für die Postmoderne gibt es keine übergeordnete Sprache, keine allgemeinverbindliche Wahrheit, die widerspruchsfrei das Ganze eines formalen Systems legitimiert. Wissenschaftliche Rationalität, sittliches Handeln und politische Gerechtigkeitsvorstellungen spielen je ihr eigenes Spiel und können nicht zur Deckung gebracht werden.

Elemente postmodernen Denkens und Urteils sind:

  • Die Absage an den seit der Aufklärung betonten Primat der Vernunft (ratio) und an die Zweckrationalität (die bereits in der Moderne erschüttert wurden)
  • Der Verlust des autonomen Subjekts als rational agierende Einheit.
  • Die Neue Hinwendung zu Aspekten der menschlichen Affektivität und Emotionalität
  • Die Ablehnung oder kritische Betrachtung eines universalen Wahrheitsanspruchs im Be-reich philosophischer und religiöser Auffassungen und Systeme (sog. Metaerzählungen oder Mythen wie Moral, Geschichte, Gott, Ideologie, Utopie, Religion, aber auch – insofern sie einen Wahrheits- oder Universalitätsanspruch trägt – Wissenschaft)
  • Der Verlust von Solidarität, traditionellen Bindungen und eines allgemeinen Gemeinschaftsgefühls
  • Die Sektoralisierung des gesellschaftlichen Lebens in eine Vielzahl von Gruppen und Individuen miteinander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen, Fragmentierung kollektiver Identitäten
  • Der Autonomieverlust und die Entdifferenzierung der in der Moderne ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme, im Kulturbereich bis hin zur „Implosion“ (Baudrillard) der traditionellen Kultur ins Soziale
  • Die Auflösung intellektueller und die Delegitimierung politischer Avantgarden
  • Der Versuche der Abkehr von ethno- und androzentrischen Konzepten
  • Das Plädoyer für Toleranz, Freiheit und radikale Pluralität in Gesellschaft, Kunst und Kultur
  • Die Dekonstruktion kultureller Identitäten,
  • Die Verwendung von Bildern anstelle von Worten,
  • An die Stelle einer diskursiven Kultur soll daher eine figurale Kultur treten,
  • Die Welt wird zunehmend zeichenhaft begriffen: daraus folgt die Problematisierung und Abkehr von der Realität und die Hinwendung zu den Repräsentationen, die die Realität verdecken und sozial bedeutsamer werden als diese.

Die Vernunft muss daher, so folgert schon Lyotard, als „zerklüftet“ vorgestellt werden. Überhaupt geht die Postmoderne davon aus, dass die irrige Selbsteinschätzung des neuzeitlichen autonomen Vernunftsubjekts, „ewigen Strukturen der Vernunft“ zu gehorchen, der „Pluralität“ und „Inkommensurabilität“ der Lebensformen nicht mehr gerecht wird. Die Selbsteinschätzung des Menschen, ein „autonomes Vernunftwesen“ zu sein und daraus Orientierung zu beziehen, ist daher eine „Illusion“. Der moderne Mensch müsse sich vielmehr damit abfinden, in einer „Situation objektiver Unübersichtlichkeit“ zu existieren, die durch Andersheit und Differenz, Unverbundenheit, Zusammenhangslosigkeit, Unstimmigkeit, Dissonanzen, Isolation, mithin auch Mangel an Kohärenz und Synthesis gekennzeichnet ist. Eine subjektive Vernunft als sinnstiftendes Vermögen mit seinen Einheits-, Ganzheits- und Sinnstiftungsmomenten ist daher genauso eine Illusion wie die Vorstellung einer objektiven Vernunft der Welt. Die e i n e  Identität des Subjekts löst sich daher auf in die „Patchworkidentität“ mehrerer Identitäten unter Verlust der Einheit der Person, weil das Subjekt von Anfang an plural verfasst ist. Anstatt von der Spontaneität, Freiheit und dem Eigenstand eines vernünftigen, sich durch synthetisierende Leistungen ausweisenden Subjekts auszugehen, ist das plurale Subjekt in der Postmoderne zum Abbild der äußeren pluralen Strukturen degradiert. Seine Vernunft ist transversale Vernunft: ihre einzige Funktion ist die Regelung des Übergangs von einer Lebensform zur anderen. Eine solchermaßen reduzierte Vernunft ist freilich der Möglichkeit beraubt, sich von der Wirklichkeit zu distanzieren und die Freiheit des Subjekts zu wahren. Der postmoderne „Verflüssigung“ der Vernunft und des Vernunftsubjekts führt letztlich, so wird man festhalten müssen, zu deren Eliminierung.

3.8 Depotenzierung der geschichtlichen Vernunft: der Bruch des absolut Neuen und die Rückkehr zum Alten

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Noch weitere Phänomene der Moderne ließen sich nennen, in denen sich die Krise zeigt, in die die Vernunft in der Moderne gerät – und zwar jetzt in ihrer Ausprägung als geschichtliche Vernunft:

Denn sie gerät in ihrer geschichtlichen Verfasstheit überall dort in die Krise, wo etwas als vermeintlich absolut Neues, noch nie Dagewesenes präsentiert wird. Auch dort, wo man das Moderne als das Gegenwärtige verteufelt und sie dadurch zu überwinden versucht, dass man die Zukunft im Wiederaufleben der Vergangenheit sucht – wir kennen das seit der Romantik. Mit ihrer Modernismuskritik und ihrem Antimodernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist auch die katholische Kirche auf diesen romantischen Habitus der Depotenzierung der geschichtlichen Vernunft hereingefallen und kann sich bis heute nur schwer davon erholen.

Schluss: Ist die Vernunft in der Nachmoderne noch zu retten?

Die vielen Moderne-Begriffe und ihre Entwicklungslogik

Meine Damen und Herren, ich habe die Moderne des 19. Jahrhunderts als das Ergebnis der Krise des neuzeitlichen Vernunftverständnisses plausibel zu machen versucht. Wir sollten uns aber fragen, ob die Vernunft nach der Moderne noch zu retten ist, oder ob Vernunft in der Moderne an ihr Ende gekommen ist bzw. ob die Moderne das Ende der Vernunft eingeläutet hat.

Auf jeden Fall scheint es in der Moderne und schon gar in der Postmoderne um die Vernunft nicht gut bestellt zu sein. Anstelle des Begriffs „Vernunft“ begegnet selbst in der heutigen philosophischen Theoriebildung zumeist der Begriff „Rationalität“, nicht nur, weil dieser nicht in gleichem Maße zu dinghaften Missverständnissen führt wie ein vermögenstheoretischer Vernunftbegriff, sondern auch weil er weitgehend unbelastet ist von den pejorativen Konnotationen, die dem Vernunftbegriff seit dem 19. Jh. anlasten.  Ist Vernunft also, so wird wohl man fragen müssen, am Ende ihrer Geschichte angelangt und gar selbst am Ende? Ist ihre Kompetenz nicht vielmehr aufgelöst in eine Vielzahl von Teilkompetenzen und Teilrationalitäten, deren Einheit angezweifelt werden muss, so dass sich die Rede von der einen „Vernunft“ im Singular erübrigt? Müssen daher nicht die Vernunft wie überhaupt das große abendländische Rationalitätsprojekt als „Sackgasse“ beurteilt werden?

Dieser negativen Einschätzung sich anzuschließen, verbietet sich dann, wenn man nicht gleichzeitig auf die wesentlichen Ansprüche und Grundüberzeugungen dieses abendländischen Vernunftprojekts verzichten will.

Denn der Verweis auf Vernunft hat eine eminent wichtige, normative Funktion und immer auch einen auffordernden und appellativen Charakter. Denn wer jemanden auffordert, der „Vernunft zu folgen“, fordert auf

  • zum Perspektivwechsel durch Orientierung an einem geordnet rekonstruierbaren Zusammenhang,
  • zum Eintritt in eine Sphäre gemeinsamer, mithin intersubjektiver Verständigung,
  • zur Widergewinnung der Selbstbestimmung im Sinne der Autonomie,
  • und zur Rechtfertigung von Erkennen und Handeln durch eine unhintergehbare, nicht mehr weiter zu relativierende Bezugsgröße.

Weil der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert, sollten wir das seit der Moderne des 19. Jahrhunderts in die Krise geratene neuzeitliche Vernunftverständnis nicht einfach ad acta legen, sondern auch in der Nachmoderne, um die Erfahrung der Moderne reicher, am Projekt einer endlichen Vernunft weiterarbeiten.

  Kategorie: Ideengeschichte

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