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Immanuel Kant (1724-1804) hat erstmals im Wintersemester 1776/77 und auch später immer wieder „Über praktische Pädagogik“ (Erziehungskunst) gelesen. Kant knüpfte dabei an Einsichten aus mehreren Werken seiner Zeit zur Erziehungskunst an und bettete deren Erkenntnisse ein in die Gesamtheit seines eigenen Philosophierens ein.[1] Sein Schüler Friedrich Theodor Rink (1770-1811) hat daraus unter dem Titel „Immanuel Kant über Pädagogik“ [2] eine Art zusammenfassender Vorlesungsnachschrift  verfasst.[3] 

Kants Ansichten zur Pädagogik liegen ganz auf der Linie seiner anthropologischen Einsichten. Diese hat er 1798 in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“[4] fomuliert, die nicht wie die „physische Anthropologie“ bloß die Summe des wissenschaftlichen Wissens vom Menschen darstellen und untersuchen will, was der Mensch von Natur ist, sondern die danach fragt, was der Mensch als zur Vernunft und zur Freiheit berufenes Lebewesen aus sich machen kann. Weil aber von Natur aus „nur Keime zum Guten“ (Päd 705) in ihm liegen, die es „proportioniert und zweckmäßig“ allererst zu entwickeln gilt, ist der Mensch „das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss.“ (Päd 697) Er „kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (Päd 699) Dabei für aber braucht es die Erziehung durch diejenigen, die selbst erzogen sind, denn „eine Generation erzieht die andere“ (Päd 697). In diesem Erziehungsprozess soll der Mensch „seine Anlage zum Guten erst entwickeln“ (Päd 702): „Sich selbst besser zu machen, sich selbst zu kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorzubringen, das soll der Mensch.“ (Päd 702) Freiheit und Sittlichkeit im Sinne vernünftiger Autonomie sind daher die letztrangigen Ziele der Pädagogik. Erziehung ist für Kant daher die Verwirklichung der praktischen Vernunft, wobei das Gelingen des Erziehungsgeschehens nicht nur dem Individuum zugute kommt, sondern auch notwendige Bedingung für eine „vollkommene Gesellschaft“ ist: „Eine Gleichförmigkeit unter (den Menschen) kann nur stattfinden, wenn sie nach denselben Grundsätzen handeln, und diese Grundsätze müssten ihnen zur zweiten Natur werden.“ (Päd 701)

Damit Erziehung als Menschwerdung gelingt, muss der Bildungsprozess eine Stufenfolge zur Freiheit durchlaufen, deren pädagogische Handlungsformen er mit den Begriffen „Disziplinierung“, „Kultivierung“, „Zivilisierung“ und „Moralisierung“ benennt, wobei er den letzten drei Begriffsdimensionen die Prinzipien der Geschicklichkeit (i.S. der technisch-praktischen Vernunft), der Klugheit (i.S. der pragmatisch-praktischen Vernunft) und der Sittlichkeit (i.S. der sittlich-praktischen Vernunft) zuordnet:

  • Der Disziplinierung fällt gleichsam eine propädeutische Funktion im Erziehungsprozess zu. Ihr Ziel ist die Bezähmung der natürlichen Wildheit des Menschen, die mit seinem ungeregelten natürlichen Hang zur Freiheit einhergeht: „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihm den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses muss aber frühe geschehen … wenn das nicht geschieht so ist es schwer, den Menschen nachher zu ändern. Er folgt dann jeder Laune.“ (Päd 698) Die Wildheit des Menschen, wie sie sich in bloßer Willkürlichkeit, Egozentrik, chaotischer Freiheit zeigt, kann durch Ausbildung eines Gesetzes- und Regelbewusstseins nur in der Kindheit bezähmt werden ­ später nicht mehr. Dabei sind alle Formen der psychischen und physischen Gewaltausübung sind ungeeignet um das Kind zur Selbstdisziplin zu führen. Ein geeigneter Weg dazu ist das Regelspiel, in welchem die Regeln das Kind anleiten, diszipliniert zu handeln. Wie die Disziplinierung unter Regeln ist die Einordnung unter eine anerkannte (Sach- )Autorität und die Unterordnung unter die eigene Vernunft die Voraussetzung dafür, zur Autonomie zu gelangen. Disziplinierung ist als negativer Teil der Erziehung Voraussetzung für Autonomie als Zusammenwirken von Vernünftigkeit und geregelter Freiheit. Der Mensch soll mithin durch Disziplinierung zur Selbstbeherrschung fähig sein.
  • Mit der Kultivierung als Ertrag von Unterweisung und Belehrung antwortet die Erziehung auf die natürliche Rohheit des Menschen: „Derjenige, der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht diszipliniert ist, ist wild. Verabsäumung der Disziplin ist ein größeres Übel, als Verabsäumung der Kultur, denn diese kann noch weithin nachgeholt werden; Wildheit aber lässt sich nicht wegbringen, und ein Versehen in der Disziplin kann nie ersetzt werden.“ (Päd 700). Die Rohheit des Menschen lässt sich prinzipiell zu allen Lebenszeiten im Sinne der Ausbildung natürlich gegebener Anlagen zu bestimmten Geschicklichkeiten und Techniken „kultivieren“. Erworben werden elementare Kulturtechniken, die einerseits als Verfügungswissen notwendig sind, um in einer Kultur zu leben, andererseits als Orientierungswissen dem Leben eine Richtung geben. Nur wer sich in einer ihn tragenden, durch Werte und Normen bestimmten Kulturwelt zurechtfindet, diese kennt und sich damit auseinandersetzt, hat die Chance, individuelle Wertigkeiten auszubilden und sich so als autonomes Vernunftsubjekt zum freien Handeln zu bestimmen. Die Menschen sollen mithin durch Erziehung in die Kultur eingeführt werden, in der sie existeiren.
  • Dagegen zielt die pädagogische Handlungsform der Zivilisierung auf die soziale Wertsphäre, insofern sie den Menschen zu einem Mitglied der Gesellschaft werden lässt, das deren Werthorizonte annimmt und sich in Auseinandersetzung und Orientierung an ihnen entwickelt. Zivilisierung meint insofern die Befähigung des Menschen zur „Manierlichkeit“, „Artigkeit“ und Klugheit, die erforderlich sind, um in der menschlichen Gesellschaft mit anderen gemeinsam erfolgreich zu handeln und Einfluss zu nehmen. Zu dieser Klugheit gehört es, dass man alle Menschen „zu seinen Endzwecken gebrauchen kann.“ (Päd 707). Gemeint ist damit keine Instrumentalisierung der Mitmenschen zum Eigennutz, denn in der Verfolgung nur eigennütziger Zwecke verfehlt ein Mensch gerade die Realisierung seines Endzwecks, seiner „Bestimmung“ in der Welt. Denn die „Endzwecke“ eines Menschen sind dasjenige, wofür er einsteht in seinem Leben, dasjenige, was seinem Leben einen Sinn gibt. Und diesen Sinn kann ein Mensch nur in Gemeinschaft und Auseinandersetzung mit anderen erfahren. Der „Gebrauch“ anderer zu den eigenen „Endzwecken“ bzw. zu vernünftigen Zwecken im Sinne einer „Weltklugheit“ findet im kulturellen Miteinander statt, wird aber insbesondere an der Schule geplant und gezielt gestaltet. Diese ist daher eine Gesellschaft im Kleinen, ein Übungsfeld der Lebens- und Weltklugheit für die Selbstorientierung dereinst mündiger Individuen. Menschen soll mithin durch Erziehung befähigt werden, mit anderen Menschen zusammenzuleben und deren Wertorientierung zu akzeptieren.
  • Mit der pädagogischen Handlungsform der Moralisierung ist das „wichtigste Stück“ (Päd 707) der Erziehung bezeichnet. Sie zielt auf Erziehung zur Mündigkeit und die Bildung zur Freiheit ab. Denn Moralität ist bei Kant nicht etwa wie bei Jean-Jacques Rousseau (1712- 1778) ein bereits angelegter und gesellschaftlich überformter Sinn für Gut und Böse, sondern das Ergebnis eines Erziehungs- und Bildungsprozesses, der nicht schon von Natur aus gegeben ist. Mithin ist der Mensch nach Kant nicht Adressat moralischer Ansprüche, sondern selbst Urheber solcher Sollensbestimmungen. Dies gewahr zu werden und dazu befähigt zu sein, ist Aufgabe der Erziehung: „Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können.“ (Päd 707) Der individuelle Prozess der Erziehung findet daher in der Selbsterziehung des Menschen zu einem moralischen Wesen, das sich die vernünftigen Gesetze seines Handelns selber zu geben imstande ist, seinen Abschluss. Nur aber ein mit moralischer Autorität ausgestatteter Mensch handelt frei, d. h. selbständig und selbstbestimmt, in der Weise, dass er in der Ausübung seiner Freiheit sich selbst treu bleiben kann. Kurzum: Die Handlungsform der Moralisierung soll Menschen zu einem selbstbestimmtem, an sittlichen Werten orientierten Leben befähigen.

[1] Vgl. Alfred K. Treml: Vorwärts zur Kultur? Immanuel Kant, in: Pädagogische Ideengeschichte. Ein Überblick, Stuttgart 2005, 269-290, bes. 284 ff.)

[2] Im Folgenden zitiert nach: Immanuel Kant: Über Pädagogik (abgek. Päd.), in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, 693-761.

[3] Zur Entstehungsgeschichte und Authentizität des Textes siehe Peter Kauder – Wolfgang Fischer: Immanuel Kant über Pädagogik. Sieben Studien, Baltmannsweiler 1999, 35-50 (II. Die Interpretationsproblematik von Genese und Authentizität von Immanuel Kant “Über Pädagogik”).

[4] In:  Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, 397-690.