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{"id":1858,"date":"2020-01-25T17:12:37","date_gmt":"2020-01-25T16:12:37","guid":{"rendered":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/?p=1858"},"modified":"2023-06-26T19:54:33","modified_gmt":"2023-06-26T17:54:33","slug":"kairos-jetzt-oder-nie-lebenskunst-im-hier-und-jetzt-eine-spurensuche-von-der-antike-bis-zur-gegenwart","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/2020\/01\/25\/kairos-jetzt-oder-nie-lebenskunst-im-hier-und-jetzt-eine-spurensuche-von-der-antike-bis-zur-gegenwart\/","title":{"rendered":"Kairos – Lebenskunst im Hier und Jetzt. Eine Spurensuche von der Antike bis zur Gegenwart (Vortrag)"},"content":{"rendered":"\n

0. EINF\u00dcHRUNG<\/h3>\n\n\n\n

Kairos – so nannten die Schriftsteller und Philosophen des antiken Griechenlands einen besonderen, einen gegl\u00fcckten, einen richtigen und angemessenen, ja einen lebensver\u00e4ndernden Moment, ja eine einmalig g\u00fcnstige Gelegenheit, die es unbedingt zu ergreifen galt, damit sie nicht ungenutzt vorbeigehe. <\/p>\n\n\n\n

Die Griechen machten aus dem Kairos \u2013 wenn auch sp\u00e4t \u2013 sogar einen Gott mit Glatze und einem Schopf an der Stirn, um den richtigen Moment, die occasio (so sp\u00e4ter die Lateiner), die g\u00fcnstige Gelegenheit gleichsam beim Schopfe packen zu k\u00f6nnen \u2013 oder eben nicht, dann rutschte die Hand \u00fcber den blanken Sch\u00e4del ins Nichts einer eben vertanen Chance. In der Hand h\u00e4lt Kairos auf Messers Schneide eine Waage, denn der Kairos ist der alles entscheidende Moment, den es gut \u00fcberlegt zu ergreifen gilt. <\/p>\n\n\n\n

Die Vorstellung eines richtigen Augenblicks, eines alles entscheidenden Moments, hat seitdem viele \u00dcbersetzungen und ebenso viele Deutungen erhalten. <\/p>\n\n\n\n

Insbesondere heute tritt der Gott Kairos in vielen\nVerkleidungen auf: als Liebe auf den ersten Blick; als berufliche Chance, die\nalles ver\u00e4ndert; als einschneidendes Erlebnis, das dem Leben eine andere Bahn\nverleiht oder als gl\u00fcckliches Zusammentreffen von Umst\u00e4nden und Personen. Aber\nauch viel banaler: als Okkasion f\u00fcr den Schn\u00e4ppchenj\u00e4ger, der \u2013 selbst um den\nPreis der Nutzlosigkeit \u2013 unbedingt dem Schn\u00e4ppchen am Black Friday bei Ebay\noder Amazon hinterherjagt. Denn Gelegenheiten darf man auf keinen Fall vers\u00e4umen.\nDas w\u00e4re S\u00fcnde und Schande. Die Werbung wei\u00df dies und erschafft kontinuierlich\nneue, vermeintlich besonders g\u00fcnstige Gelegenheiten, und droht mit deren\nVorbeigang.  <\/p>\n\n\n\n

Stets steckt dahinter die gleiche Sehnsucht: dass man\neinmal zugreifen und das volle Leben erwischen kann, in diesem g\u00fcnstigen\nAugenblick, in dem sich das Universum oder Gott oder die Gesellschaft oder auch\nnur Amazon und Ebay mit dem Ich verb\u00fcnden. Es ist der eine Moment, von dem an\nalles anders und alles gut wird \u2013 zumindest bis die n\u00e4chste Gelegenheit\nauftaucht. <\/p>\n\n\n\n

Zum Jahreswechsel wird die Sehnsucht in Form von\nVors\u00e4tzen kultiviert: Neujahr ist der erste Tag eines neuen Lebens. Aus\nunerfindlichem Grund halten zeitgleich Millionen von Menschen genau diesen Tag\nf\u00fcr eine gute Gelegenheit, dem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Skeptiker\nhalten ihn f\u00fcr den Beginn eines Massensterbens guter Absichten. <\/p>\n\n\n\n

Doch l\u00e4sst sich bestimmen, wann Gelegenheiten gute\nsind? Woran erkennt man sie? Und kann man sich auf sie vorbereiten, muss man es\ngar? Sind sie ein Geschenk, oder erfordern sie eine Anstrengung? Kann man den\nKairos anstreben, oder f\u00e4llt er einem zu? Oder sind kairotische Momente viel zu\nfl\u00fcchtig, zuf\u00e4llig und selten, um irgendetwas \u00fcber sie sagen zu k\u00f6nnen? <\/p>\n\n\n\n

Wenn sie denn selten sind. Daran haben\nKognitionsforscher inzwischen Zweifel. Sie haben in unser Hirn geschaut und\ndort eine Kairos-Maschine entdeckt. Denn wir machen aus allem einen Kairos,\nbesonders im Nachhinein. Und wir machen alles f\u00fcr einen Kairos. Besonders im\neigenen Leben. <\/p>\n\n\n\n

Denn gro\u00dfe Momente sind die wichtigste Droge unseres\nHirns. Und unser Ged\u00e4chtnis ist der Dealer. Es dient nicht dazu, die\nVergangenheit wie ein Video abzuspulen, sondern uns mit Sinn zu f\u00fcttern. Und\nden verankern wir am liebsten in besonderen Augenblicken. Daf\u00fcr allerdings\nm\u00fcssen wir unser Leben tagt\u00e4glich neu schreiben und das Geschriebene\n\u00fcberarbeiten. <\/p>\n\n\n\n

Zun\u00e4chst k\u00fcrzen wir unsere Autobiografie auf\nhandliches Format und l\u00f6schen alles, was durch Dauer und Gleichm\u00e4\u00dfigkeit\nlangweilt. Lange Jahre der Zufriedenheit \u2013 in unserer Erinnerung schnurren sie\nzu einem Moment zusammen; duration neglect<\/em> <\/a>nennt\ndas der Kognitionsforscher und Nobelpreistr\u00e4ger Daniel Kahneman, die Missachtung des Dauerhaften und Best\u00e4ndigen<\/strong>.\nStatt Verlauf z\u00e4hlen H\u00f6he- und Endpunkte. Unseren Urlaub oder unsere Ferien,\nbeispielsweise, beurteilen wir sehr schlicht nach dem tollsten und dem letzten\nMoment \u2013 das Ged\u00e4chtnis ist der Sensationsjournalist, der unser Leben zum Scoop\nhochjubelt. <\/p>\n\n\n\n

Haben wir unser Leben so weit eingedampft, beginnt der\nkreative Part: Nun pumpen wir die Momente mit Bedeutung auf, um uns im Hier und\nJetzt wohler zu f\u00fchlen. Meistens machen wir uns schlauer und besser, als wir je\nwaren. Wir “erinnern” uns, dass wir einschneidende Ereignisse\n(Finanzkrise, berufliche Wendepunkte, Fl\u00fcchtlingskrise) vorhergesagt haben,\nunsere Schulnoten steigen im Laufe der Zeit, und \u00fcblicherweise halten wir\nErfolge f\u00fcr unser Werk, weil wir den Kairos, den richtigen Moment am Schopf\ngepackt haben. Fehlschl\u00e4ge freilich rechnen wir den Umst\u00e4nden zu. <\/p>\n\n\n\n

Dass dem so ist, ist in zweierlei Hinsicht unsch\u00f6n. Zum einen s\u00e4t es Zweifel in jede Geschichte \u2013 auch die eigene. Denn eine frisierte Erinnerung ist von einer echten nicht zu unterscheiden. Zum anderen hilft uns die mentale Kairos-\u00dcberproduktion \u00fcberhaupt nicht bei zuk\u00fcnftigen Gelegenheiten. Wie wir uns vorzubereiten haben, um sie zu ergreifen, dar\u00fcber schweigt unser Hirn. <\/p>\n\n\n\n

Offensichtlich sind wir von Hause aus orientierungslos im\nFluss der Zeit, weil uns alles gleichg\u00fcltig und gleich wertlos ist! Und wem\nnichts mehr auf Dauer wertvoll ist, dem bleibt nichts anderes \u00fcbrig, als zum\nOpportunisten der Gelegenheit zu werden, egal welcher, Hauptsache sie erscheint\nals g\u00fcnstig mit Blick auf was auch immer. Der postmoderne Mensch, sollte es ihn\ngeben, muss notwendig zum Schn\u00e4ppchenj\u00e4ger von Occasionen werden, denn ein\ndauerhaftes Wahres, Sch\u00f6nes und Gutes gibt es nicht mehr. Und gerade weil\nnichts dauerhaft Wertvolles existiert, sucht man das Wertvolle im kairotisch\nMomentanen selbst, gleichsam im Augenblick \u2013 und zwar um seiner selbst willen,\nweil man hofft, darin etwas Authentisches, Urspr\u00fcngliches, Unmittelbares,\nSelbstevidentes zu finden. Doch im Eintauchen in den Flow und den Taumel der\nkairotischen Momente verliert der Mensch das eigentliche und dauerhafte Projekt\nseines Lebens aus den Augen: n\u00e4mlich sich selbst. Denn \u2013 wie ich zu zeigen\nversuche – er selbst ist nicht nur die eigentliche Konstante des Suchens,\nsondern auch das Gesuchte selbst. <\/p>\n\n\n\n

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie vermuten es schon: Diese einleitenden, eher abschreckenden Vorstellungen vom Kairos, vom g\u00fcnstigen Moment und den vielen g\u00fcnstigen Gelegenheiten, zwischen denen ich auf dem Meer der Meinungen herumgesegelt bin, karikieren<\/em> bestenfalls eine seri\u00f6se philosophische Besch\u00e4ftigung mit dem Thema \u201eLebenskunst im Hier und Jetzt\u201c. Um dieser Misere abzuhelfen, lassen sie uns  – Platon folgen, der die Aufgabe der Philosophie darin sah, gleichsam ein zweites Mal auf die offene See der Ideen und Gedanken hinauszufahren – bei dieser zweiten Ausfahrt mit den Augen der Vernunft auf die Idee des Kairos schauen. Die zweite Ausfahrt ist immer anstrengender und anspruchsvoller als die erste \u2013 ich werde ihre Aufmerksamkeit also strapazieren m\u00fcssen. <\/p>\n\n\n\n

Ich tue dies in drei Schritten: <\/p>\n\n\n\n

Wir werden uns in einem ersten Schritt mit der Deutung des\nKairos in der griechischen Literatur und der griechischen Philosophie bis hin\nzur Aristoteles besch\u00e4ftigen, um das damit Gemeinte von seinem geschichtlichen\nUrsprung her besser verstehen zu k\u00f6nnen. Mit Aristoteles ist die Verortung des\nKairos-Gedankens in der Philosophie, insbesondere innerhalb der praktischen\nPhilosophie bzw. der Ethik abgeschlossen.<\/p>\n\n\n\n

Aristoteles Vorstellung von der menschlichen Praxis als dem\nangemessenen Ort des Kairos weiterdenkend werden wir uns daher in einem zweiten\nSchritt mit der Geschichtlichkeit des Menschen besch\u00e4ftigen m\u00fcssen,\ninsbesondere mit der Rolle, die Entscheidungen, vor allem kairotische\nGrundentscheidungen darin spielen. Denn erst diese verleihen dem Leben des\nIndividuums allererst Identit\u00e4t und Kontur, ja machen das Individuum als Person\nf\u00fcr andere identifizierbar. <\/p>\n\n\n\n

Dabei wird der Mensch nur, insofern er ein handelnder ist,\nzu seinem eigenen Projekt. Ansonsten blieben seine kairotischen Entscheidungen\nleer und im unverbindlich Abstrakten. Das ist der Kairos der Praxis. Denn nur\ndurch seine Praxis, mit der er immer schon risikoreich verstrickt ist im \u201eBezugsgewebe\nmenschlicher Angelegenheiten\u201c, so Hannah Arendt, gewinnt er seine unverwechselbare\nIdentit\u00e4t und wird f\u00fcr sich und andere identifizierbar. Dies werden wir in\neinem dritten Schritt zum Gegenstand machen.
<\/p>\n\n\n\n

1. Die Deutung des Kairos in der griechischen Literatur und Philosophie bis\nAristoteles<\/h3>\n\n\n\n

Beginnen wir \u2013 wie angek\u00fcndigt \u2013 mit einem ersten\nhistorischen Abschnitt: der Deutung des Kairos in der griechischen Literatur\nund Philosophie bis Aristoteles.<\/p>\n\n\n\n

1.1 Der etymologische Befund: Drei Bedeutungen des Kairos<\/h4>\n\n\n\n

\u00dcber den urspr\u00fcnglichen Wortsinn von Kairos ist offenbar mit\netymologischen Untersuchungen, die zu recht verschiedenen Ergebnissen gef\u00fchrt\nhaben, keine Sicherheit zu gewinnen; doch l\u00e4sst sich an Hand der sprachlichen\nEntwicklungslinie immerhin eine Grundbedeutung von Kairos herausstellen: Kairos\nmeint das Entscheidende<\/em>, den wesentlichen Punkt<\/em>, und zwar erstens\n\u00f6rtlich bzw. r\u00e4umlich (als der richtige Ort), zweitens sachlich (als das rechte\nMa\u00df) und drittens zeitlich (als die geeignete Zeit) verstanden.<\/p>\n\n\n\n

1.1.1 Kairos als der richtige Ort bzw. das r\u00e4umliche Ziel (\u03ba\u03b1\u03af\u03c1\u03b9\u03bf\u03c2 – \u03ba\u03b1\u1fd6\u03c1\u03bf\u03c2)<\/h5>\n\n\n\n

Der r\u00e4umliche Sinn von Kairos scheint der \u00e4lteste zu sein.\nSo steht Kairos in Verbindung mit zwei \u00e4hnlichen W\u00f6rtern aus der homerischen\nund nachhomerischen Dichtung, n\u00e4mlich \u03ba\u03b1\u03af\u03c1\u03b9\u03bf\u03c2\n(am rechten Orte eintreffend, entscheidend, t\u00f6dlich\/zur rechten Zeit\neintreffend, gelegen) und \u03ba\u03b1\u1fd6\u03c1\u03bf\u03c2\n(das r\u00e4umiche Ziel). Ausgangspunkt dieser Argumentation ist die Trag\u00f6die\nAgamemnon von Aischylos, wo \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\noffenbar die Bedeutung von Ziel, Markierung annimmt. Man kann mit dem Bogen das\nentscheidende r\u00e4umliche Ziel (Kairos) treffen oder \u00fcber den \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 hinaus zielen. \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 wird daher bei Euripides\nauch auf jenen Teil des menschlichen K\u00f6rpers bezogen, wo der Mensch durch eine\nWaffe am t\u00f6dlichsten verwundbar ist. In Homers Ilias und Odyssee bezeichnet das\nWort \u03ba\u03b1\u03af\u03c1\u03b9\u03bf\u03c2 nicht\nnur die K\u00f6rperteile, wo eine Waffe am leichtesten eindringen kann, sondern auch\ndie Gegenst\u00e4nde, worauf Bogensch\u00fctzen mit ihren B\u00f6gen am liebsten zielen. Dabei\nstellten die Bogensch\u00fctzen ihre St\u00e4rke und Pr\u00e4zision besonders dadurch unter\nBeweis, dass es ihnen gelang, durch viele in einer Reihe gestellte L\u00f6cher zu\nschie\u00dfen. Diese Figur verleiht Kairos die sp\u00e4tere Bedeutung von Gelegenheit,\nGenauigkeit, richtiges Ma\u00df: eine \u00d6ffnung ist n\u00e4mlich eine Chance, die genau so\nschwierig zu n\u00fctzen ist, wie es schwierig ist, einen Pfeil durch viele L\u00f6cher\nzu schie\u00dfen.<\/p>\n\n\n\n

1.1.2 Kairos als die entscheidende\/g\u00fcnstige Zeit (\u03ba\u03b5\u03af\u03c1\u03c9 – \u03ba\u03c1\u03af\u03bd\u03b5\u03b9\u03bd – \u03ba\u03c1\u03af\u03c2\u03b9\u03c2 – \u03ba\u03c1\u03b9\u03c4\u03ad\u03c1i\u03bf\u03bd)\nund als Krise des Chronos<\/h5>\n\n\n\n

Kairos ist \u2013 so eine zweite Herleitung – \u00fcber \u03ba\u03b5\u03af\u03c1\u03c9\n(abschneiden, scheren, aber auch: morden) mit \u03ba\u03c1\u03af\u03bd\u03b5\u03b9\u03bd verwandt.\nDas hei\u00dft scheiden, trennen, unterscheiden, ordnen, aber auch entscheiden, ein\nUrteil f\u00e4llen. Das Substantiv dazu hei\u00dft \u03ba\u03c1\u03af\u03c2\u03b9\u03c2. Die \u03ba\u03c1\u03af\u03c2\u03b9\u03c2\nist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines\nWettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann hei\u00dft \u03ba\u03c1\u03af\u03c2\u03b9\u03c2\nGericht. Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit,\nein Einschnitt in der Zeit. Im Kairos werden mithin auch die Zeiten (Vergangenheit\nund Zukunft) unterschieden. <\/p>\n\n\n\n

Dadurch, dass Kairos die Mitte der Zeiten ist, wird er zum\nMa\u00df (metrion) der Zeit. Eine Zeit dauert von kairos zu kairos bzw. von krisis\nzu krisis. Die Krisis gibt das kriterion der Zeit ab. <\/p>\n\n\n\n

Kairos steht damit in einem deutlichen Spannungsverh\u00e4ltnis\nzum Chronos als Zeitfluss:<\/p>\n\n\n\n

Quantitatives Zeitverst\u00e4ndnis <\/strong><\/td> Qualitatives Zeitverst\u00e4ndnis <\/strong><\/td><\/tr>
Ununterbrochener Zeitfluss <\/td>Unterbrechung des Zeitflusses
(au\u00dferhalb der Zeit, die Zeit steht still, das Nicht-Zeitliche, das Ewige bricht ein) <\/td><\/tr>
gemessen in Minuten <\/td>gemessen in Momenten und Augenblicken<\/td><\/tr>
exakt bestimmbar (eine Minute ist eine Minute) <\/td>Momente variieren (Vielfalt)<\/td><\/tr>
ist endlich (eingeteilt ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft)<\/td>ist unendlich (ewig) und pr\u00e4sentisch<\/td><\/tr>
Zeit, die wir verbrauchen <\/td>Zeit, die uns verbraucht<\/td><\/tr>
sequentiell<\/td>saisonal<\/td><\/tr>
eine allt\u00e4gliche Realit\u00e4t<\/td>eine einmalige herausgehobene Gelegenheit (lat. occasio)<\/td><\/tr>
Personifizierung: alter Mann (mit Sense und Stundenglas)<\/td>Personifizierung: junger Mann (geschmeidig und gutaussehend)<\/td><\/tr>
Bild: Uhr<\/td>Bild: Fenster<\/td><\/tr><\/tbody><\/table><\/figure>\n\n\n\n
1.1.3 Kairos als das rechte Ma\u00df (\u03bc\u03ad\u03c4\u03c1\u03bf\u03bd)<\/h5>\n\n\n\n

Dieser Kairos, als Krise des Chronos, ist das Ma\u00df der Zeit,\nim Sinne von Kriterion und Metrion: Er mi\u00dft die Zeitspanne, ist das Ma\u00df und\ndaher selbst nicht me\u00dfbar. Daher hat der Kairos f\u00fcr die Griechen nicht nur\npraktische, sondern auch \u00e4sthetische, ja insbesondere auch eine kosmologische und\nmetaphysische Bedeutung: Als Ma\u00df erzeugt der Kairos Symmetrie, Sch\u00f6nheit, Ordnung,\nZusammenstimmen der Teile, Harmonia. Wie der richtige, der goldene Schnitt in\nder Proportion nicht me\u00dfbar, berechenbar ist, so ist der Schnitt in der Zeit\nauch unberechenbar. Er ist als Ma\u00df der Zeit selbst nicht in der Zeit, sondern\n\u00fcberzeitlich. <\/p>\n\n\n\n

In der nachhomerischen\n\u00e4lteren Dichtung<\/strong> kommt \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\ndaher zumeist als Ma\u00dfbegriff vor. Ihm entspricht die best\u00e4ndige Forderung, Ma\u00df\nzu halten, was eine ontologische Vorherrschaft des Kairos voraussetzt. Mit\nErlaubnis von Protagoras k\u00f6nnte man sagen: \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\nist das Ma\u00df aller Dinge. Denn alles, was nach dem \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 ausgerichtet ist, ist auch sch\u00f6n,\nsymmetrisch, harmonisch. Das Fehlen von \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\ndeutet dagegen auf H\u00e4sslichkeit hin. Kairos, so schon Hesiod im 8. Jahrhundert, ist <\/strong>das beste Ma\u00df f\u00fcr alles. Er empfiehlt in seiner Theogonie, in\njeder Handlung den \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\nzu suchen. Diese Idee durchdrang die ganze altgriechische Literatur. Es wird\nempfohlen, vern\u00fcnftig und ausgeglichen zu sein (\u03b5\u1f50\u03ba\u03cc\u03c3\u03bc\u03c9\u03c2,\n628), bei jeder Entscheidung und Situation Ma\u00df zu halten, die rechte Zeit (\u1f65\u03c1\u03b7 630, 642, 665) zu finden,\ndas rechte Ma\u00df (\u03bc\u03ad\u03c4\u03c1\u03bf\u03bd 648, 694) zu halten und die rechte Wahl (\u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 694) zu treffen \u2013 so die\nbasalen Handlungskriterien f\u00fcr den Menschen. Hier merken sie schon: Kairos ist\ndie Zeit der Wahl und der Entscheidung, die gleichsam auf Messers Schneide\nsteht!<\/p>\n\n\n\n

Zwei Jahrhunderte nach Hesiod nimmt \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 bei Pindar (518 bis etwa 438) eine neue,\noriginelle Bedeutung an. Kairos bezeichnet nun das richtige Ma\u00df im Bereich der\nRhetorik und der Poetik, d. h. die F\u00e4higkeit, Gedanken und Ereignisse durch die\nRegel der Metrik richtig auszudr\u00fccken. \nBei den Pythagoreern, die in\nder Natur das Vorhandensein von Gesetzen und Zusammenh\u00e4ngen, die sich\nwiederholen, erkennen und diese durch Zahlenverh\u00e4ltnisse ausdr\u00fccken, tr\u00e4gt\nKairos als Eigenschaft der Zahlen mit Seele (\u03c8\u03c5\u03c7\u03b7),\nVernunft (\u03bd\u03bf\u1fe6\u03c2) und\nGerechtigkeit (\u03b4\u03b9\u03ba\u03b1\u03b9\u03bf\u03c3\u03cd\u03bd\u03b7), zum Aufbau der\nkosmischen Harmonie bei.<\/p>\n\n\n\n

1.2 Verbindung der drei Bedeutungen in Rhetorik und Medizin (Gorgias \u2013\nCorpus Hippocraticum)<\/h4>\n\n\n\n

In der Rhetorik und der Medizin gehen die r\u00e4umliche, die\ns\u00e4chliche und die zeitliche Komponente der Kairosvorstellung eine enge\nVerbindung ein. So erhebt Gorgias den\nKairos zu einem wichtigen Topos der Rhetorik. Der Kairos wird zur Norm einer\nauf das Interesse des Augenblicks gerichteten \u00dcberredungstechnik. Kairos wird\naber auch zu einem Zentralbegriff f\u00fcr die Medizin; daf\u00fcr spricht die\nH\u00e4ufigkeit, mit der das Wort im Corpus\nHippocraticum vorkommt. Denn jeder Fall ist einzigartig, jeder Patient\nreagiert auf eine ganz verschiedene Weise auf Medikamente und Behandlungen.\nKairos in der Medizin meint die F\u00e4higkeit, den richtigen Augenblick zu erkennen\nund ihn zu ergreifen, das richtige Ma\u00df an den zu verabreichenden Medikamenten\nund die richtige Zeit f\u00fcr die Behandlung einer Krankheit zu w\u00e4hlen sowie den\ngenauen Eingriffsort zu kennen. Durch den Kairos-Begriff gelingt es mithin Hippokrates, die variablen Elemente der\nmedizinischen Praxis auszudr\u00fccken.<\/p>\n\n\n\n

1.3 Die mystische Komponente: die Entstehung des Kultus des Kairos<\/h4>\n\n\n\n

Wenn es auf den Kairos r\u00e4umlich, s\u00e4chlich und zeitlich\nankommt, wenn der ganze Kosmos und alle menschlichen Angelegenheiten auf ihn\nangewiesen sind, so dass Kairos auch als ein kosmologisches, ja mystisches\nPrinzip gesehen werden kann, dann ist die Entstehung eines Kultus des Kairos\nnicht verwunderlich. Dieser Kultus kn\u00fcpft sich an einen Altar in Olympia, der\nam Eingang des Stadions lag und f\u00fcr dessen Einweihung der Dichter Ion von Chios (5. Jh. v. Chr.) eine\nHymne schrieb (Paus. 5, 14, 9). Kairos, der Gott des g\u00fcnstigen Augenblicks, ist\nnicht wie Nike, Eirene und Plutos eine urmythische Gottheit. Seine Entstehung\nerfolgte durch die Personifizierung und Verg\u00f6ttlichung einer Idee, in diesem\nFall der Vorstellung, dass es den Wettbewerbern nur dann der olympische Sieg\ngelingen w\u00fcrde, wenn sie die g\u00fcnstige Gelegenheit packen w\u00fcrden.<\/p>\n\n\n\n

1.4 Relativierung des Kairos zur blo\u00dfen Gelegenheit in der Sophistik\n(Protagoras \u2013 Gorgias – Isokrates)<\/h4>\n\n\n\n

Die griechische Antike kennt nicht nur die Verg\u00f6ttlichung\ndes Kairos, sondern auch seine vollst\u00e4ndige Entg\u00f6ttlichung und Depotenzierung.\nDenn, so die Sophisten, nicht der von den G\u00f6ttern geschenkte Kairos, sondern\nder Mensch ist das Ma\u00df aller Dinge: \u201eanthropos metron hapaton\u201c, so der ber\u00fchmte\nhomo-mensura-Satz des Protagoras. Damit wird der Mensch ma\u00dfgebend f\u00fcr alles und\nr\u00fcckt ins Zentrum des Universums: die Wirklichkeit hat keinen anderen Sinn als\njenen, den ihr der Mensch beimisst. Jede Sache kann daher durch die kreative\n\u00dcberzeugungskraft des menschlichen  Logos\nradikal ge\u00e4ndert werden. Der Sophist Gorgias nennt den Logos daher auch\n\u201eBetr\u00fcger\u201c. Wenn aber die Welt nur mehr Projektion und Konstrukt der\nmenschlichen Vernunft ist, dann kann es auch keinen Kairos mehr geben, der das\nzeitlich, r\u00e4umlich und sachlich Richtige treffen k\u00f6nnte. Denn nun ist alles\nbeliebig, gleich wertvoll und gleich bedeutsam, eben ein blo\u00dfes Konstrukt zum\nBehufe der Interessen des Menschen. Was gerecht und ungerecht ist, wird daher \u2013\nje nach Gelegenheit (Kairos), Situation und Nutzen \u2013 anders bestimmt, mithin\nbeliebig. <\/p>\n\n\n\n

Schon der Sch\u00fcler des Gorgias, Isokrates (436-338 v. Chr.),\nhat den Sophisten vorgeworfen, die Bedeutung und die Tiefe des Kairos daher nicht\nbegriffen zu haben. Dass sie nicht wussten, den richtigen Moment zu ergreifen, darin\nsah er den Grund all ihrer Versagen und ihrer Wirkungslosigkeit. Die Erziehung,\nso sein Gegenprogramm, m\u00fcsse die Sch\u00fcler daher bef\u00e4higen, den richtigen\nZeitpunkt (\u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2) durch den Verstand (\u03c6\u03c1\u03cc\u03bd\u03b7\u03c3\u03b9\u03c2) zu erkennen und zu ergreifen.\nDas Wort \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 kommt ungef\u00e4hr hundert Mal in den Schriften des Isokrates vor,\nwas f\u00fcr die Bedeutung und das Interesse spricht, das Isokrates dem Kairos\nzuma\u00df. Denn \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2, so Isokrates, bedeutet Kreativit\u00e4t, verspricht Erfolg, ist\nZeichen von M\u00e4\u00dfigkeit und Kraft, nicht zuletzt im gesellschaftlichen und\npolitischen Bereich. Dieses Modell von \u03c0\u03b1\u03b9\u03b4\u03b5\u03af\u03b1 hat in der Geschichte als\nhumanistisches Bildungsideal Schule gemacht.<\/p>\n\n\n\n

1.5 Transsubjektiv-metaphysische Verankerung des Kairos bei Platon<\/h4>\n\n\n\n

Die sophistische These, dass der \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 beliebig das Gerechte und\ndas Ungerechte bestimme, wurde zur Zeit Platons von den Vielen (\u03bf\u1f31 \u03c0\u03bf\u03bb\u03bb\u03bf\u03af)\nvertreten, was f\u00fcr den damaligen Erfolg der Sophisten und ihrer\nrelativistischen Lehre spricht. Was diese selbst anbelangt, \u00e4u\u00dfert sich Platon\nb\u00fcndig und entschieden: sie ist falsch. Denn \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 w\u00fcrde in diesem Fall\nblo\u00dfe Unbestimmtheit und Beliebigkeit bedeuten. Au\u00dferdem dokumentiere sich in\neinem solchen Verst\u00e4ndnis die Kapitulation der Erkenntnis vor der\nUnentzifferbarkeit des Realen. Bei Platon erh\u00e4lt der Kairos daher seine\ntranssubjektive, auch die kosmologisch-metraphysische Verankerung zur\u00fcck: In\nder metaphysisch unterbauten Ethik der Mesotes, der zufolge das richtige\nHandeln immer das Mittlere zwischen den Extremen ist, figuriert das kairion als\nSynonym von metrion, ikanon, teleon, d.h. als Inbegriff von Grenze,\nVollkommenheit, Einheit und Gl\u00fcck, als das alle hiesige Angemessenheit\nerm\u00f6glichende Urma\u00df. Platon ist \u00fcber die M\u00f6glichkeit, dass der Mensch Herr\nseines Selbst sei und den Kairos selbst bestimmen k\u00f6nne, zumindest skeptisch.\nVielmehr ist es das Schicksal, das den richtigen Zeitpunkt, das richtige Ma\u00df\nund das der Situation Angemessene vorgibt: \u201eDer Gott regiert alles, und mit ihm\ndas Schicksal und der Kairos regieren alle menschlichen Sachen.\u201c (Nomoi 709c). <\/p>\n\n\n\n

1.6 Kairos und Praxis bei Aristoteles<\/h4>\n\n\n\n

Ein Quantensprung in der Deutung des Kairos tut sich bei\nAristoteles. Er verortet den Kairos innerhalb der praktischen Philosophie und\nder Ethik. Denn das Handeln des Menschen ist nicht durch ein deterministisches\nParadigma im Flusse der Zeit erkl\u00e4rbar. Sondern der Mensch durchbricht im\nkritschen Augenblick der Entscheidung, die seinem konkreten Handeln vorausgeht,\ndie Kette der Kausalit\u00e4t. Der Kairos der Entscheidung schafft mithin Raum f\u00fcr\nfreies Handeln. Aber auch die Umsetzung der Entscheidung in konkretes Tun\nbedarf des Kairos: die Umst\u00e4nde, die den Erfolg der Handlung durch das\nErgreifen der Mittel wesentlich mitbedingen, m\u00fcssen stimmen. Die Situation muss\ng\u00fcnstig sein. Die Menschen sind daher im Handeln frei und f\u00fcr ihre Taten\nverantwortlich: das ist die Hauptbotschaft, die \u2013 folgt man Aristoteles –\nKairos verk\u00fcndet. Kairos ist also nicht nur der kritische Moment, in dem eine\nHandlung durch eine Entscheidung hervorgebracht wird, sondern auch Bedingung\nf\u00fcr das Gelingen dieser Handlung selbst. Ziel alles Handelns ist das Gl\u00fcck, die\nEudaimonia, die darin besteht, dass der Handelnde so handelt, wie es seiner\nNatur, seinem Wesen als vernunftbegabtes Lebewesen entspricht.<\/p>\n\n\n\n

Wir tun uns heute schwer, die essentialistischen\nVorannahmen, die eine Rede von der Natur des Menschen leiten, noch\nnachvollziehen zu k\u00f6nnen. Dass die einmalige Existenz des Individuum an einer\nallgemeinen Natur des Menschseins Ma\u00df nehmen soll, ist uns heutigen allerdings\nnicht mehr plausibel. Ich will daher versuchen, ohne essentialistische Bez\u00fcge\ndie Einsicht des Aristoteles aufgreifen, dass von Kairos immer nur im Kontext\nvon freien Entscheidungen und der Praxis des Menschen gesprochen werden kann,\nund diese Einsicht mit Mitteln einer Existentiallogik der Entscheidung\nrekonstruieren.
<\/p>\n\n\n\n

2. Die Geschichtlichkeit des Menschen, seine kairotischen Entscheidungen\nund der Kairos der \u201eoptio fundamentalis\u201c<\/h3>\n\n\n\n

Der radikale Bruch\nim Denken des 19. Jahrhunderts, der mit Marx, <\/strong>Nietzsche und auf christlicher Seite\nmit S\u00f6ren Kierkegaard vollzogen ist, soll im Rahmen einer Philosophie der\nPraxis den Hintergrund abgeben f\u00fcr eine neue Sicht dessen, was mit Kairos heute\ngemeint sein k\u00f6nnte: denn Praxis wird nun wesentlich geschichtlich gefasst, d.h. als dem konkreten und singul\u00e4ren Werden des\nSubjekts unterworfen. Allgemein beginnt\nman, den Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu entdecken,  d.h.. als Subjekt, das sich in\ndem st\u00e4ndigen Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft aufh\u00e4lt, das von\ndem einen motiviert und auf das andere hingeordnet ist und in diesem\nSpannungsverh\u00e4ltnis seine kairotischen Entscheidungen trifft. Mit dem bereits\nerw\u00e4hnten S\u00f6ren Kierkegaard beginnt der Existentialismus, sich des konkreten\nMenschen anzunehmen. Schon bei ihm gilt, was Sartre sp\u00e4ter in Geltung f\u00fcr diese ganze philosophische Str\u00f6mung\nformulieren wird: “DER MENSCH IST NICHTS ANDERES ALS WOZU ER SICH MACHT!” Denn nicht ein festes Wesen\ngeht dem Individuum voraus, sondern er existiert zuerst und im Laufe seines\nLebens erwirbt er sich gleichsam erst das, was ihn als Individuum wesenhaft\nkennzeichnet.<\/p>\n\n\n\n

Im Gegensatz zur\nscholastischen und idealistischen\nWesensphilosophie, die das Konkrete des Menschen aus dessen Wesen zu deduzieren\nunternimmt, wird sich das Individuum\njetzt als das privilegierte Sein\nbewusst, das sich sein Wesen in der kontinuierlichen\nAbfolge von Entscheidungsvorg\u00e4ngen selbst setzt, das dadurch die Differenz zu\nsich selbst zu \u00fcberwinden versucht, die es im Verlauf der individuellen\nGeschichte aufzuheben gilt.<\/p>\n\n\n\n

Die Geschichtlichkeit des Menschen und die Notwendigkeit zur\nEntscheidung bedingen sich damit gegenseitig. Entscheidungen bilden die\nmarkanten Punkte, die die Geschichtlichkeit des Subjekts konstituieren. Erst\ndie Entscheidung gegen\u00fcber den angebotenen M\u00f6glichkeiten der Zukunft erlaubt\nes, praktisch zu werden, d.h. eine Tat zu setzen, die allerdings auf den\nMenschen selbst wieder konditionierend zur\u00fcckf\u00e4llt.<\/p>\n\n\n\n

In einem 2. Punkt ist sich die Lebensphilosophie (Dilthey,\nNietzsche, Bergson) wie die Ph\u00e4nomenologie (Husserl, Scheler, Hartmann) als\nauch die Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers, Sartre) einig: Die sich aus\nEntscheidungen zusammensetzende Geschichtlichkeit des Menschen muss ein diese\nEinzelentscheidungen verbindendes Fundament besitzen, denn ansonsten w\u00e4re das\nKairotische der Einzelentscheidung ein rein zuf\u00e4lliges, nicht selbst\ngestaltetes, mithin etwas Inkoh\u00e4rentes.<\/p>\n\n\n\n

    \n
  • F\u00fcr Kierkegaard z.B. ist die Authentizit\u00e4t der\nExistenz vom Entschluss zu einer Grundentscheidung abh\u00e4ngig, die tiefer als\nalle banalen Wahlen des t\u00e4glichen Lebens greift und diese bestimmend \u00fcberformt.\nKierkegaard sieht eine solche Grundentscheidung in der Entscheidung zum Leben\naus dem Glauben, die eine “Lebensanschauung\u201c, “Lebensbetrachtung oder\n– wie er es ebenfalls nennt \u2013 \u201eWeltanschauung” konstituiert.<\/li>\n\n\n\n
  • Nietzsche sieht die Willenskraft als Ergebnis\neiner Struktuirierung von Unter-Willen, die erst in ihrer \u00dcberformung durch die\nKraft des Wollens zu einem einheitlichen Strukturganzen menschlichen Lebens\nzusammenwachsen. Erst dieser herrschende Wille erm\u00f6glicht ein Koh\u00e4rentwerden\nmenschlicher Existenz.<\/li>\n\n\n\n
  • Analoge Aussagen finden sich in Heideggers\nOntologie der Existenz, Karl Jaspers Ontologie der Transzendenz, in der\nPhilosophie Sartres, Gabriel Marcels, Bergsons und vor allem in Blondel. In\nseiner 1893 erschienenen Dissertation \u201eL\u2018action\u201c (\u201eDie Tat\u201c) erkennt er das\nmenschliche Handeln als wesentlich konditioniert und zusammengehalten durch\ndas, was er “optio fundamentalis\u201c nennt, ein Begriff, der von Thomas von\nAquin in der quaestio 89 seiner summa theologiae zum ersten Mal auftaucht, 600\nJahre lang keine philosophische Behandlung mehr erfahren hatte und heute – zumeist\nim Kontext der Psychoanalyse und Moral – mit \u201eGrund-” oder\n\u201eLebensentscheidung\u201c wiederzugeben w\u00e4re.<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

    Ich will daher im Folgenden versuchen, eine Philosophie der\ndurch Entscheidungen konstituierten Praxis mittels einer \u201eExistentiallogik der\nEntscheidung\u201c zu entwickeln, die menschliches Handeln auf ihre notwendigen\nBedingungen der M\u00f6glichkeit \u00fcberhaupt untersucht. <\/p>\n\n\n\n

    Drei Bereiche der Reflexion scheinen mir hierbei praktisches\nHandeln zu konstituieren: 1. die Geschichtlichkeit des Menschen, 2. die daraus\nerwachsende Notwendigkeit der Entscheidung zur Tat, und schlie\u00dflich 3. die den\nSinnzusammenhang des Lebens bedingende \u201eOptio fundamentalis\u201c, die\nGrundausrichtung der Handlungen eines Subjekts. Anhand einer logischen Analyse\nder Zeitstruktur der Geschichtlichkeit des Menschen will ich das eine aus dem\nanderen entwickeln.<\/p>\n\n\n\n

    2.1 Die Geschichtlichkeit des Menschen<\/h4>\n\n\n\n

    2.1.1 Definition <\/h5>\n\n\n\n

    M\u00fcsste man die Geschichtlichkeit des Menschen beschreibend\ndefinieren, so besagte sie eine bestimmte Welt- und Zeitversammelnde\nVerfasstheit des menschlichen Daseins. Das will sagen: durch die\nGeschichtlichkeit steht der Mensch im Spannungsfeld einer immer schon\nvorgegebenen, behaltenen und doch entzogenen Vergangenheit einerseits, einer\nbesorgten, ankommenden und noch ausstehenden Zukunft andererseits. Das konkrete\nWesen des Menschen wird also nicht statisch als fertiges vorgefunden, sondern\nvom Menschen selbst im Dialog zwischen Freiheit und innerwelticher\nKonditionierung, d.h. in der Hinnahme und Auseinandersetzung mit dem ihm\nvorgegebenen Gr\u00fcnden und Bedingungen dieser seiner Freiheit geschaffen. M\u00f6glich\nist diese \u201eSelbstsch\u00f6pfung\u201c des konkreten Wesens dadurch, dass der Mensch jenes\nausgezeichnete Seiende ist, das im Gegensatz zur untermenschlichen Wirklichkeit\ndie Differenz zu sich selbst ist. Das Wesen des Menschen ist damit nicht eine\nvorgegebene Struktur seines Handelns, sondern dem Menschen hat es in seiner\nIndividualgeschichte erst um dieses Wesen zu gehen. <\/p>\n\n\n\n

    2.1.2 Analyse der Zeitstruktur des Menschen<\/h5>\n\n\n\n

    Es bietet sich hierbei eine Analyse der zeitlichen Analyse\nder zeitlichen Struktur jedes menschlichen Handelns an, die dieser\nWesensausbildung zugrunde liegt. Der Mensch befindet sich ja nicht nur\n\u00e4u\u00dferlich in einem objektiv festhaltbaren Zeitraum, sondern seinem Wesenskern\nnach ist er durch den Bezug zur Zeit als subjektiv-gelebte konstituiert, so\ndass Zeitlichkeit als seine innere Strukturform bezeichnet werden kann.<\/p>\n\n\n\n

    Eine Analyse dieser existentiellen Zeitstrukturiertheit\nerg\u00e4be ungef\u00e4hr folgendes Bild. Anregen hierf\u00fcr lassen wir uns von Augustinus<\/strong> und in dessen Weiterf\u00fchrung\nvon Merleau-Ponty<\/strong>.<\/p>\n\n\n\n

    Augustinus analysiert im 11. Buch seiner “Confessiones\u201c\nden Bezug des Menschen zur Zeit als “distensio animi”, als\nZerdehntheit der Seele. Er meint damit: die nicht mehr seiende Vergangenheit,\ndie das Jetzt bildende Gegenwart und die noch nicht seiende Zukunft sind nicht\ndrei zusammenhangslose, nebeneinander existierende Zeiten, sondern drei Momente\nmeines pr\u00e4sentischen Bewusstseins. F\u00fcr Augustinus gilt somit: \u201eTempus est in\nanima\u201c. Auf diesem Hintergrund definiert er <\/p>\n\n\n\n

      \n
    • die Vergangenheit als “praesens de\npraeteritis\u201c (also als Gegenwart des Vergangenen),<\/li>\n\n\n\n
    • die Gegenwart als “praesens de\npraesentibus\u201c (als Gegenwart des Gegenw\u00e4rtigen) und entsprechend<\/li>\n\n\n\n
    • die Zukunft als “praesens de futuribus\u201c\n(mithin als Gegenwart des Zuk\u00fcnftigen).<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

      Die Intentionalit\u00e4t des Vergangenheitsbewu\u00dftseins ist das\nGed\u00e4chtnis, die des Zukunftbewu\u00dftseins das Erwarten. Das Gegenwartsbewu\u00dftsein\nals “praesens de praesentibus” verbindet beide zum Zeitfluss. <\/p>\n\n\n\n

      \u00dcbrigens: Moderne Ph\u00e4nomenologen wie Husserl, Heidegger und\nin besonderer Weise Merleau-Ponty teilen diese Sicht menschlicher Zeitlichkeit.<\/p>\n\n\n\n

      So hat etwa Merleau-Ponty diesen Ansatz weitergef\u00fchrt. Er\nsieht in der Zeitlichkeit ein Netz von Intentionen,\n<\/em>wobei er zwei Typen unterscheidet:<\/p>\n\n\n\n

        \n
      • Retensionen besorgen das Motiviertsein aus\nVergangenheit.<\/li>\n\n\n\n
      • Protensionen lassen den Menschen auf Zukunft hin\norientiert sein. <\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

        Beide bilden die “Ekstasen\u201c menschlichen Zeitbewusstseins,\ndie Vergangenheit und Zukunft pr\u00e4sent sein lassen.<\/p>\n\n\n\n

        Retensionen und Protensionen liefern uns jetzt die Grundlage\nf\u00fcr die Anwendung der logischen Modi auf die Ekstasen des Zeitbewusstseins. So\nsoll die erste der Bedingtheiten von Handeln \u00fcberhaupt gefunden werden.<\/p>\n\n\n\n

        Zur Anwendung kommen die log. Modi nach Aristoteles: m\u00f6glich\nund unm\u00f6glich, notwendig und kontingent. Im Hintergrund soll dabei immer die\nFrage stehen: Wie ist der \u00dcbergang von Zukunft in Vergangenheit, also das\ngeschichtliche Werden des Menschen, denkbar und was steht am Umbruch, an der\nNahtstelle dieses \u00dcbergangs? Die Intentionalit\u00e4tsdifferenz von Re- und\nProtension wird entsprechend differenter Logiken bed\u00fcrfen.<\/p>\n\n\n\n

        So verlangt die Zukunft als Ort der Protension eine Logik\nder  Kontingenz oder der Nicht-Exklusion,\nd.h. Zukunft ist Ort der reinen M\u00f6glichkeit, der Alternativen, die noch offen\nsind. Zukunft ist der Ort des Sollens, des ethischen Handelns. Sprechen von\nZukunft ist immer ein Sprechen in Alternativen. Sowohl das eine als auch das\nandere kann m\u00f6glich sein. Die Bezogenheit auf Zukunft in ihrer kontingenten\nLogik bietet mir somit die M\u00f6glichkeit, Freiheit zu aktuieren und konkret\nwerden zu lassen. Das M\u00f6gliche und Kontingente l\u00e4sst sich ja nicht mit dem\nNotwendigen verbinden: ein m\u00f6glich Notwendiges ist eine contradictio in se.<\/p>\n\n\n\n

        Auf die Vergangenheit und unser Bewusstsein davon wird\nentsprechend eine Logik der Notwendigkeit zur Anwendung kommen m\u00fcssen. Einmal\nvergangen Geschehenes ist unver\u00e4nderbar; ohne Alternativen bleibt die Retension\ndarauf fixiert. Vergangenes konditioniert uns damit und wird ein Teil im\nProzess unseres Werdens.<\/p>\n\n\n\n

        2.2 Entscheidung als kairotischer Hiatus des \u00dcbergangs von Zukunft in Vergangenheit<\/h4>\n\n\n\n

        Bisher haben wir noch nicht beantwortet, wie sich auf dem\nHintergrund der Ekstasen des Zeitbewu\u00dftseins, Pro- und Retension, der \u00dcbergang\nvon Zukunft in Vergangenheit, von M\u00f6glichem in Notwendiges vollzieht.<\/p>\n\n\n\n

        Zu antworten w\u00e4re mit dem Begriff der Entscheidung, die\nihren eigenen Kairos hat. Sie sch\u00f6pft die ganze aktuelle F\u00e4higkeit des Handelns\naus. Durch Entscheidung f\u00fcr die eine oder die andere M\u00f6glichkeit, die mir\nprotensionell geboten sind, wende ich mich in absoluter Weise einer\nnicht-absoluten M\u00f6glichkeit zu. Im \u00dcbergang von Zukunft in Vergangenheit\nbefindet sich gleichsam als Hiatus die immer zwischengeschaltete Entscheidung,\ndie irrevokablen Charakter hat, da sie sich auf eine der angebotenen\nM\u00f6glichkeiten festlegt und sie in Notwendigkeit bzw. Wirkliches \u00fcberf\u00fchrt. Das\nErgebnis dieses meines Entscheidens, das Vergangenheit geworden ist, bildet\njetzt eine st\u00e4ndige Bedingung meines weiteren Tuns. So l\u00e4\u00dft sich sagen, da\u00df\nZukunft wesentlich bereits Zukunft eines Vergangenen ist, da die Vergangenheit\ngewordene Entscheidung f\u00fcr eine ehemals zuk\u00fcnftige M\u00f6glichkeit mich in der Wahl\nneuer M\u00f6glichkeiten einschr\u00e4nkt. (anders gewendet: das, was ich durch\nvergangene Entscheidungen zu meiner Wirklichkeit gemacht habe, konditioniert\nmeine Zukunft mit). Die Einheit menschlicher Zeitlichkeit ist damit als\nkonstituiert anzusehen durch die Dezisionalit\u00e4t. Der Mensch kann und mu\u00df sich\nentscheiden. Jeder Augenblick des zeitlichen Ablaufes fordert mir eine\nEntscheidung ab. Je bewu\u00dfter ich diese ergreife, desto mehr und desto koh\u00e4renter\nforme ich das mein nach Konkretisierung rufendes Wesen selbst, das im Ertrag\ndie Summe meiner Entscheidungen ist, die in meine konkrete Praxis m\u00fcnden.\nEntscheidung m\u00fc\u00dfte daher Grundkategorie einer die konkrete Existenz ad\u00e4quat\neinholen wollenden Philosophie der Praxis sein.<\/p>\n\n\n\n

        Betrachten wir hierzu thesenartig die Vielfalt der Bez\u00fcge,\nin denen eine Entscheidung steht, um ihr Wesen zu erhellen.<\/p>\n\n\n\n

        Zwei Momente kennzeichnen eine Entscheidungssituation: <\/p>\n\n\n\n

          \n
        • Zum einen eine gewisse konkrete Bestimmtheit,\ndenn im Abstrakten und g\u00e4nzlich Unbestimmten dr\u00e4ngt sich keine Entscheidung\nauf, ja sie ist nicht einmal m\u00f6glich.<\/li>\n\n\n\n
        • Zum anderen die Notwendigkeit eines Entweder \u2013\nOder, einer im letzten absolut bevorzugenden Wertwahl.<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

          Beide zusammen umschlie\u00dfen das Wesen der Praxis und bilden\nden Ort, besser: das Aufgabengebiet der konkreten menschlichen Freiheit:<\/p>\n\n\n\n

            \n
          • Das Moment der konkreten Bestimmtheit will nicht\nsagen, da\u00df Konkretes bis in letzte Einzelheiten bestimmt sein m\u00fc\u00dfte und wir es\nad\u00e4quat reflex einzuholen im Stande w\u00e4ren. Es deutet vielmehr an, da\u00df sich die\nBestimmtheit aus und in einem konkreten Kontext ergibt, auf dessen Hintergrund\nder \u00dcbergang von Zukunft in Vergangenheit stattfindet. Was existiert, kann\nnicht im Allgemeinen und auf unbestimmte Weise sein; es existiert als dieses\nBesondere im ganzen Kontext alles Seienden. Letztlich ist dieser Kontext das\nganze Weltgeschehen; das ganze Universum und unsere Vorgeschichte kommen mit\nins Spiel: unsere eigene pers\u00f6nliche Geschichte, sowohl in seinen bewu\u00dften, als\nauch in den unbewu\u00dften Dimensionen; ebenso die Geschichte unserer Vorfahren und\nschlie\u00dflich die Geschichte unserer gesamten Umwelt. <\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

            Neben diesem vergangenen Kontext\nwird eine Entscheidungssituation bestimmt von den k\u00fcnftig zu erwartenden, d.h.\nfreilich nicht sicher und unbedingt eintreten m\u00fcssenden Auswirkungen und\nVerpflichtungen, die ein bestimmtes Tun im Zusammenhang der Welt und der\nGeschichte haben wird. Ja, diese jetzt nicht abzusehenden k\u00fcnftigen\nVerflechtungen werden in einem sp\u00e4teren Zeitpunkt den vergangenen Kontext neuer\nEntscheidungen bilden, neue M\u00f6glichkeiten er\u00f6ffnen oder verbauen \u2013 und zwar f\u00fcr\nmich und f\u00fcr die anderen. <\/p>\n\n\n\n

            So entsteht eine Art Kreislauf.\nDieser Kreis erst schlie\u00dft Praxis zu einem Beziehungsgeflecht zusammen. Praxis\nmu\u00df als eine Wirklichkeit gesehen werden, die sich im Fortschreiten der Zeit\nselbst bedingt und bestimmt. Die Entscheidung ist hierbei das Moment der\nDiskontinuit\u00e4t zwischen Zukunft und Vergangenheit. [Sie unterbricht den Fluss\nder Zeit, auch den Fluss unseres Zeitbewusstseins, sie bricht in die Zeit ein,\nwie der Kairos, ja, sie ist der Kairos, den es zu ergreifen gilt.]<\/p>\n\n\n\n

              \n
            • Ferner ist eine Entscheidung in ihrem Grunde\nimmer Entscheidung als ein Entweder-Oder. Weil Praxis unvermeidlich\nkonkret-ganzheitlich und nichtwieder r\u00fcckg\u00e4ngig zu machen ist, nimmt schon der\nblo\u00dfe Entwurf einer w\u00fcnschenswerten Praxis, also die Planung einer Zukunft,\nebenso unvermeidlich die Gestalt eines endg\u00fcltigen Entweder-oder an.\nEntschiedenheit ist damit immer ethisches Entscheiden gegen\u00fcber dem, was als eigentliches\nIdeal noch zur Verwirklichung erworben werden muss. Ethisches Bewusstsein ist\nja letztlich nichts anderes als das Bewusstsein des Menschen als noch offene\nM\u00f6glichkeit, als Zukunft verstanden als Ort des Sollens.<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

              Jetzt stellt sich nur noch die Frage, was dieses\n“Noch-nicht-Sein” ist, dem gegen\u00fcber der Mensch sich zu entscheiden\nhat, und das implizit in jeder Entscheidungssituation mitschwingt. <\/p>\n\n\n\n

              Eine Antwort haben wir schon angedeutet: es ist das bis zum\nTod im Werden begriffene individuelle Wesen der handelnden und entscheidenden\nPerson selbst. Denn das Individuum macht sich erst im Laufe des Lebens durch\nseine Entscheidungen und seine Praxis zu dem, was es gewesen sein wird. Damit\ndieses Wesen identifizierbar ist, d\u00fcrfen die einzelnen Entscheidungen nicht\neinfach unverbunden nebeneinander stehen, sie bed\u00fcrfen einer verbindenden\nKoh\u00e4renz. Denn eine beliebige Vielzahl von Entscheidungen ergibt noch nicht die\nKontur eines Individuums. Zwar ist jede Entscheidung eine kairotische: denn aus\nFreiheit entscheide ich mich f\u00fcr das und mache es zu dem Wirklichen und Notwendigen,\ndas mich f\u00fcrderhin bestimmen und konditionieren soll. Freiheit w\u00e4re freilich\nnur Willk\u00fcr, aber noch nicht Autonomie, n\u00e4mlich Selbstgesetzgebung, wenn sich\ndie Person nicht dauerhaft an etwas selbstakzeptiertes Werthaftes binden w\u00fcrde,\ndas die Vielzahl seiner Entscheidungen zur Einheit zusammenbindet und dadurch\ndie Einzelentscheidung der eigenen Willk\u00fcr dauerhaft entzieht, damit auch diese\nTeil des sich sukzessiv ausbildenden Wesens eines Individuums wird.<\/p>\n\n\n\n

              Wir m\u00fcssen daher \u00fcber das sprechen, was in der Tradition\n\u201eoptio fundamentalis\u201c oder Grundentscheidung genannt wird.  <\/p>\n\n\n\n

              2.3 Der Kairos der \u201eOptio fundamentalis\u201c<\/h4>\n\n\n\n

              2.3.1 Sartre und Heidegger: Existenz und Essenz <\/h5>\n\n\n\n

              Nach Jean-Paul Sartre ist der Mensch ein Wesen, bei dem die\nExistenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch\nirgendeinen Begriff definiert werden kann. Dies bedeutet, da\u00df der Mensch zuerst\nexistiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und danach sich erst definiert.\nDem Menschen ist das Sein nicht von Anfang an mitgegeben, sondern aufgegeben.\nMit Existenz ist damit jenes Faktum gemeint, das je seine M\u00f6glichkeit ist.<\/p>\n\n\n\n

              Nach Heidegger wird der Mensch selbst zum\n“Sein-K\u00f6nnenn; ihm wird gegeben, in Freiheit mit seinem Dasein gleichsam\nwie mit einem Material umzugehen. Man k\u00f6nnte also zusammenfassend den Wert, das\nNoch-nicht-Sein, das es in der Entscheidung zu intendieren gilt, auch das\nSelbstsein des Menschen nennen, das es inhaltlich individuell auszuf\u00fcllen gilt.<\/p>\n\n\n\n

              2.3.2 Selbstsein als Aufgabe<\/h5>\n\n\n\n

              Damit ist aber schon ein Programm vorgegeben, innerhalb\ndessen die Einzelentscheidungen zu einem koh\u00e4renten Ganzen zusammenwachsen\nsollen. Die sich dabei in allen Entscheidungen durchhaltende Ausrichtung\nmenschlichen Daseins wie Selbstsein, Suche nach Sinn, Konfrontation mit dem\neigenen Tod, soll Gew\u00e4hr bieten, die dauernde im \u00dcbergang von Zukunft in\nVergangenheit anzusiedelnde Diskontinuit\u00e4t von Zeitlichkeit zu \u00fcberwinden.\nDasein findet erst Kontinuit\u00e4t in der Ausbildung des eigenen Wesens. Die\nBedingung dieser Kontinuit\u00e4t ist ein Koh\u00e4rentwerden der Einzelentscheidungen,\ndie f\u00fcr sich betrachtet Hiate zeitlichen Fortschreitens sind.<\/p>\n\n\n\n

              2.3.3 Die verschiedenen Tiefen der Entscheidung<\/h5>\n\n\n\n

              Dieses Programm, das eigene Selbstsein, tritt nat\u00fcrlich in\nverschiedenen Entscheidungen auch unterschiedlich stark hervor, je nachdem, wie\ntief eine Entscheidung den Kern des Personseins ber\u00fchrt. So gibt es\nEntscheidungen, die eine deutlich erkennbare und permanent sich zeigende Wurzel\nim Innern des operativen Dynamismus der Person besitzen. Dies l\u00e4\u00dft sich zumeist\nan einem gewissen Entscheidungshabitus ablesen. Geht man also von den\nperipheren zu den grundlegenderen Entscheidungen zur\u00fcck, findet man ein\noperatives Netz ausgebildet, das die Diskontinuit\u00e4t menschlicher\nGeschichtlichkeit aufzufangen im Stand ist.<\/p>\n\n\n\n

              2.3.4 Der Antrieb zur Grundentscheidung<\/h5>\n\n\n\n

              Als Antrieb zu einer grundlegenden Ausrichtung, wie sie sich\nin der Entscheidung zu einem Beruf, zur Ehe, zur k\u00fcnstlerischen T\u00e4tigkeit zum\nDasein eines Politikers oder zum Priestertum oder Ordensleben manifestiert,\nm\u00fcssen wir eine Urtendenz menschlichen Wollens ausfindig machen, die jedem\nkonkreten Wollen zugrunde liegt und diese mitmotiviert. Diese Urtendenz l\u00e4\u00dft\nsich als Drang zum Selbstsein nachweisen, als Wunsch, sich in Ganzheit als ein\nidentifizierbares Individuum realisiert zu wissen. Eine Erf\u00fcllung dieses\nDranges w\u00e4re gleichsam die fundamentalste Form von Gl\u00fcck.<\/p>\n\n\n\n

              Diese grundlegende Verfa\u00dftheit, dieser origin\u00e4re Drang des\nWollens, stellt eine Art transzendentaler Bedingung jeder menschlichen\nAusrichtung dar. Diese Konstitution als Antrieb zur eigenen\nWesensverwirklichung nimmt dabei dem Individuum nichts von seiner Freiheit, da\ndiese Sehnsucht nicht auf eine vorbestimmte Form ausgerichtet ist, sondern schon\nvor dem Wissen um deren inhaltliche F\u00fcllung mit zuk\u00fcnftig zur Verf\u00fcgung\nstehenden M\u00f6glichkeiten vorhanden ist, also bevor der Mensch reflex\nfestgestellt hat, in welch konkreter Gestalt er sich selbst realisieren will.\nErst der immer neu auf ihn zukommende Hiat des \u00dcbergangs von Zukunft in\nVergangenheit bietet ihm die M\u00f6glichkeit, diesen Drang nach Selbstsein und\nSelbstwerdung zu aktuieren.<\/p>\n\n\n\n

              2.3.5 Die Geschichtlichkeit der Optio fundamentalis<\/h5>\n\n\n\n

              Die Grundentscheidung steht damit selbst unter dem Gesetz\nder Geschichtlichkeit, aber – man k\u00f6nnte sagen – in 2. Potenz, da sie\nihrerseits geschichtliche Entscheidungen voraussetzt:<\/p>\n\n\n\n

                \n
              • Zum einen ist sie aus Vergangenheit motiviert.\nSie ist kein einmaliger personaler, von aller Vorgeschichte losgel\u00f6ster Akt,\nsondern sie \u00fcberformt vorgegangene Entscheidungen und erw\u00e4chst aus ihnen.<\/li>\n\n\n\n
              • Zum anderen ist die Optio fundamentalis als\n\u201esemper et pro semper\u201c auf die nachfolgenden Entscheidungen als “semper et\nnon pro semper” hin ausgerichtet. Wir k\u00f6nnen hier von einer intentionalen\nDynamik der Grundentscheidung in die Einzelentscheidungen hinein sprechen. Die\nGrundentscheidung wird somit zu einer Art hermeneutischem Prinzip, mittels dem\nneue existentielle Situationen interpretiert werden.<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n

                Da die Optio fundamentalis – implizit gewachsen oder\nexplizit gef\u00e4llt – vorerst nur ein formales Interpretations-Prinzip aller\nzuk\u00fcnftig auf einen zukommenden M\u00f6glichkeiten ist, mu\u00df sie sich immer wieder\nneu im Einzelakt zum Einsatz bringen, das will sagen: sich neu inkarnieren,\nsich in der Ver\u00e4u\u00dferlichung konkret inhaltlich f\u00fcllen. So bleibt beispielsweise\ndie Entscheidung zur christlichen Existenz ewig eine leere, wenn sich dies\nnicht in konkretem Tun \u00e4u\u00dfert, so dass sie nur ein Lippenbekenntnis bleibt.\nEine Grundentscheidung er\u00f6ffnet also wesentlich eine stabilisierte Zukunft. Sie\nkann in hervorragender Weise dazu dienen, vor allem schicksalsm\u00e4\u00dfige\nFremdgegebenheit als einschneidende Gef\u00e4hrdung der inneren Stimmigkeit des\nEntscheidungsschicksals aufzufangen und zu Elementen des eigenen Profils zu machen.<\/p>\n\n\n\n

                2.3.6 Das Ma\u00df der Sinnhaftigkeit einer Grundentscheidung: Koh\u00e4renz und\nGlaubw\u00fcrdigkeit<\/h5>\n\n\n\n

                Das Ma\u00df der Richtigkeit einer Optio fundamentalis ist daher\nderen Lebbarkeit, was teilweise eine Neuausrichtung oder gar v\u00f6llige \u00c4nderung\nnicht ausschlie\u00dft. Auch gilt, dass die Optio fundamentalis nie eine ganz zu\nkonkretisierende ist, sondern immer nur approximativ in Einzelentscheidungen zu\nrealisierende ist. Zwischen Grund- und Einzelentscheidung besteht daher immer\nein geschichtlich bedingtes Spannungsverh\u00e4ltnis. Ein Unsicherheitsfaktor. <\/p>\n\n\n\n

                Indikator ihrer approximativen Realisation unter endlichen\nBedingungen ist zum einen die Koh\u00e4renz, in der die vielen Einzelentscheidungen\nstehen. Zum anderen deren Glaubw\u00fcrdigkeit oder Credibilit\u00e4t, die sich in der\ndaraus folgenden Praxis dokumentiert (wie wir noch sehen werden). Denn die\nGrundentscheidung ist nur dann glaubw\u00fcrdig und nicht nur ein folgenloses\ndesiderium pium, wenn einerseits alle weiteren Entscheidungen in Koh\u00e4renz zu\nihr stehen und andererseits daraus Taten oder eine Praxis folgen, in denen sich\nGrundentscheidung und Einzelentscheidung gleichsam inkarnieren und diese\ndadurch erst zur Wirklichkeit wird.<\/p>\n\n\n\n

                2.3.7 Dogmatismus und Fanatismus   <\/h5>\n\n\n\n

                Wird die geschichtliche Bedingtheit des\nSpannungsverh\u00e4ltnisses von Grund- und Einzelentscheidung missachtet und kommt\nes zu einer erstarrten Auseinandersetzung der beiden, so f\u00fchrt dies zu\nDogmatismus und Fanatismus. Wird die Grundentscheidung n\u00e4mlich von ihrem\ngeschichtlichen Vor- und R\u00fcckbezug abgel\u00f6st, erscheint sie nur mehr als\nradikale Einzelentscheidung, die zwar mit aller Kraft festgehalten und nicht\nmehr ver\u00e4ndert wird, aber dabei nicht in den konsequenten Zusammenhang eines\nsich artikulierenden Lebensweges einbezogen wird. Das Gesamtph\u00e4nomen verk\u00fcmmert\nohne Ber\u00fccksichtigung der zeitlichen Ekstasen, denen auch das Entscheidungsbewusstsein\nunterworfen bleibt, tritt gleichsam ungeschichtliche Ballung ein: n\u00e4mlich Fanatismus\nund Dogmatismus.
                <\/p>\n\n\n\n

                3. Der Kairos der Praxis und die Verstrickung der Person im \u201eBezugsgewebe\nder menschlichen Angelegenheiten\u201c<\/h3>\n\n\n\n

                Der Kairos der Grundentscheidung und unsere kairotischen\nEinzelentscheidungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Die\nGrundentscheidung w\u00e4re \u2013 wie schon angedeutet – ein folgenloses, mithin auch\nunglaubw\u00fcrdiges desiderium pium, ein blo\u00df frommer Wunsch, ein belangloses\nAllgemeines, weil noch nicht Wirkliches, w\u00fcrde sie nicht zur Praxis, zur konkreten\nTat dr\u00e4ngen. Die konkrete Praxis ist gleichsam die Vollendungs- und\nRealisationsgestalt der Grundentscheidung. Praxis hat daher auch einen eigenen\nKairos, n\u00e4mlich den g\u00fcnstigen Moment in Raum und Zeit. Denn praktisches\nT\u00e4tigkeitsein ist immer konkret-situativ eingreifendes,\nwirklichkeitsver\u00e4nderndes Handeln im Gewebe der menschlichen Angelegenheiten. <\/p>\n\n\n\n

                3.1 Personalit\u00e4t des Handelns<\/h4>\n\n\n\n

                Praxis ist zudem wesentlich personal, und zwar in einem\ndreifachen Sinn: <\/p>\n\n\n\n

                (1.) Der Mensch offenbart erstens<\/em> im Handeln (und nur dort), wer er als Person ist und wer er\nsein will. Ein Urteil \u00fcber das Handeln ist daher indirekt immer auch ein Urteil\n\u00fcber den Handelnden. <\/p>\n\n\n\n

                (2.) Praxis ist zweitens<\/em>\ndeswegen immer personal, weil von Handlungen nur dort gesprochen werden kann,\nwo eine Aktion zwischen mindestens zwei Personen stattfindet. Verhalten kann\nman sich gegen\u00fcber der Natur, Handeln immer nur gegen\u00fcber und mit anderen\nPersonen oder in einem Geflecht von Handlungen anderer Personen. Praxis richtet\nsich also immer an Menschen als Adressaten, nicht an Sachen. Im Umkehrschluss\nhei\u00dft dies: Der Umgang mit Menschen wie \u00fcberhaupt das Geflecht der menschlichen\nAngelegenheiten ist durch Handlungen und nicht durch Dinge und\nHerstellungsprozesse und deren Produkte konstituiert. <\/p>\n\n\n\n

                (3.) Schlie\u00dflich ist Praxis, drittens<\/em>, auch deswegen personal zu nennen, weil die Person des\nHandelnden selbst das Werkzeug der Handlung ist. W\u00e4hrend Herstellungsvorg\u00e4nge\nsich externer Werkzeuge bedienen, um etwas herzustellen, h\u00e4ngt die Qualit\u00e4t\neiner Handlung wesentlich von den F\u00e4higkeiten des Handelnden selbst ab. <\/p>\n\n\n\n

                Sprechen und Handeln stehen hierbei in einem engen\nZusammenhang, denn Taten, die nicht von Reden begleitet sind, verlieren einen\ngro\u00dfen Teil ihres Offenbarungscharakters der Person. Sprachlose Taten\nsabotieren gleichsam jede Verst\u00e4ndigung und werden dadurch zu blo\u00dfe\n\u201eTatsachen\u201c, zum Handeln ohne Handelnden. Erst durch das gesprochene Wort f\u00fcgt\nsich die Tat in einen Bedeutungszusammenhang. Dies nicht so sehr deswegen, weil\nes die Funktion der Sprache w\u00e4re, die Tat zu erkl\u00e4ren, sondern weil das\nbegleitende Wort vielmehr den T\u00e4ter und die durch die Tat verfolgte Absicht\nidentifiziert, ohne die weder die Qualit\u00e4t der Handlung, die sich u. a. auch\naus der Relation von Absicht und Tat ergibt, ermessen, noch die Unterscheidung\nvon bewusstem Handeln und unbewusstem Verhalten aufrechterhalten werden k\u00f6nnte.\n<\/p>\n\n\n\n

                3.2 Das \u201eBezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten\u201c als Ort der Praxis<\/h4>\n\n\n\n

                Handlungen liegen in ihrem Effekt nicht vor wie Objekte in\nder physikalischen Welt. Vielmehr betrifft fast alles Handeln und Reden\ngleichsam den \u201eZwischenraum\u201c, der zwischen Menschen ist und den Menschen als\ngemeinsamen Handlungsraum mit ihren Interessen als ein Dazwischen (inter-esse<\/em>) konstituieren. Dieser durch\nHandlungen und Worte konstituierte \u201eZwischenraum\u201c l\u00e4sst sich nicht\nverdinglichen und objektivieren wie der objektive Zwischenraum, der durch\nDinge, naturale Vorkommnisse, Artefakte und Produkte angef\u00fcllt ist. Er ist in\nseiner objektiven Ungreifbarkeit freilich nicht weniger wirklich als die Welt\nunserer sichtbaren Umgebung. H. Arendt nennt diese Wirklichkeit \u201edas\nBezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten\u201c, wobei die Metapher des Gewebes\nversucht, der physischen Ungreifbarkeit des Ph\u00e4nomens gerecht zu werden. Der\nBereich, in dem die menschlichen Angelegenheiten vor sich gehen, besteht in\neinem jedem Handeln und Sprechen vorausliegenden Bezugssystem, das sich \u00fcber\nalles legt, wo Menschen zusammenleben. Es bildet den eigentlichen Ort von\nHandlungen. Das Handeln des Einzelnen f\u00fcgt sich in dieses bestehende Gewebe auf\neinmalige Weise wie ein darin im Laufe des Lebens verflochtener Faden ein. Sind\nalle F\u00e4den des Handelnden im Laufe seines Lebens zu Ende gesponnen, dann ist\nseine durch Handlungen konstituierte und nun zum Abschluss gekommene\nLebensgeschichte erz\u00e4hlbar. In ihr zeigt sich das Wesen des Handelnden als die\nSumme seiner Handlungen freilich nur den Mithandelnden. Denn Handeln und\nSprechen in Isolation und ohne best\u00e4ndigen Kontakt mit dem Bezugsgewebe einer\nMitwelt, an das sie sich richten, sind niemals m\u00f6glich. <\/p>\n\n\n\n

                3.3 Lebensgeschichte als Resultat von Verstrickungen<\/h4>\n\n\n\n

                Weil das Gewebe, das der Handelnde und Sprechende nicht\nselbst gemacht hat, in das er aber unentrinnbar verwoben ist, immer schon da\nist, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm urspr\u00fcnglich\nvorschwebten, in ihrer inneren Einheit verwirklichen. Der eigene, in dieses\nvorgegebene, sich permanent ver\u00e4ndernde Gewebe geschlagene Faden ist das\nurspr\u00fcngliche Produkt des Handelns. Es besteht nicht in der Realisierung\nvorgefasster Ziele und Zwecke, sondern in urspr\u00fcnglich vom Handelnden gar nicht\nintendierten Geschichten, die sich beim Verfolgen seiner Ziele ergeben und die\nsich f\u00fcr den Handelnden selbst erst einmal wie nebens\u00e4chliche Nebenprodukte seines\nTuns darstellen m\u00f6gen. Das was von seinem Handeln schlie\u00dflich in der Welt\nverbleibt, sind nicht die Impulse, Motive, Entscheidungen und Ziele, die ihn\nselbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die sie unabsehbar\nverursachten. <\/p>\n\n\n\n

                Die Spanne menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod\nformiert sich damit zu einer erz\u00e4hlbaren Geschichte mit Anfang und Ende. Diese\nGeschichten, die ggf. im Ged\u00e4chtnis der Generationen lebendig bleiben und als\nGeschichten \u00fcber jemanden erz\u00e4hlt werden, handeln nicht von Sachen oder\nGegenst\u00e4nden, sondern vom Subjekt als dem \u201eHelden\u201c, Verursacher und T\u00e4ter der\nerz\u00e4hlten Geschichte. Erz\u00e4hlbare Geschichten sind mithin die eigentlichen\nProdukte des Handels und Sprechens. Und obwohl es eine enge Verflechtung der\nGeschichte und der Geschichten zu der Person gibt, die ihr Veranlasser ist, ist\naufgrund der Verwobenheit seiner Geschichte in das \u201eGewebe der menschlichen\nAngelegenheiten\u201c nicht eigentlich sie es, die die Geschichten gestaltet hat.\nDie Person ist Initiator seiner Geschichte, aber nicht eigentlich deren\nVerfasser. \u201eJemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten,\naber niemand hat sie ersonnen.\u201c<\/p>\n\n\n\n

                Weil die potentiellen Konsequenzen des eigenen Tuns nie\nberechenbar und \u00fcberschaubar sind, sich aber in unserem Handeln wir selbst uns\nentbergen, erzeugt die Unabsehbarkeit der Handlungsfolgen die eigent\u00fcmliche,\nauf den Ausgang gerichtete Lebensspannung, die zum Gang unserer biographischen,\ndurch Handeln unweigerlich erzeugten Geschichte geh\u00f6rt. Diese eigent\u00fcmliche\nSpannung des Lebens l\u00f6st sich erst am Ende des Lebens auf, weil sich erst dann\ndie Bedeutung der Geschichte enth\u00fcllt, in die wir Zeit unseres Lebens\nverstrickt waren und deren Ausgang wir nicht kennen k\u00f6nnen. Der Sinn des\nHandelns und die Bedeutung der individuellen Geschichte entbergen sich erst\ndann, wenn der Prozess des Lebens an sein Ende gekommen ist. Und er entbirgt\nsich nur denjenigen, die nicht in diese Geschichte verstrickt sind, die sie\ndaher \u00fcberblicken und erz\u00e4hlen. So sind erz\u00e4hlbare Geschichten die einzigen\neindeutig handgreiflichen, mithin auch der Fremddeutung ausgesetzten Resultate\nmenschlichen Handelns. Der Sinn seines Lebens erschlie\u00dft sich mithin nicht dem\nHandelnden selbst, sondern immer nur dem anderen, der seine durch Taten\nkonstituierte Geschichte erz\u00e4hlt, die als Lebensgeschichte wie ein Ding unter\nDingen erst dann vorliegt, wenn sie an ihr Ende gekommen und der Tr\u00e4ger tot\nist. Wir hinterlassen als Resultat unseres Handelns mithin nichts als eine\nGeschichte, deren Vollendung wir mit dem Preis des eigenen Todes bezahlen.<\/p>\n\n\n\n

                Schluss: Der Mythos von Herakles als exemplarische Wiederspiegelung der\nexistentiellen Bedeutung der drei Dimensionen des Kairos<\/h3>\n\n\n\n

                Der Versuch, eine Philosophie der Praxis, die durch den\nKairos der Grundentscheidung, kairotische Einzelentscheidungen und den Kairos\nder Tat gekennzeichnet ist, zu explizieren, soll abschlie\u00dfend noch eine\nexemplarische Anwendung erfahren.<\/p>\n\n\n\n

                Hierzu soll uns der Mythos von Herakles am Scheideweg dienen,\nwie er uns in Xenophons (gest. 355 a.Chr.) Memorabilien (seinen Erinnerungen an\nSokrates, 2.1, 21-34) \u00fcberliefert ist. Mythos ist ja beispielhaftes Bild oder\nGleichnis f\u00fcr Welt- und Lebenszusammenh\u00e4nge und nach neuerer Auffassung eine\nsich im Unterbewusstsein der Generationen vollziehende Ansammlung\ngleichlaufender Bilder, in dem bestimmte Seiten der menschlichen Existenz im\nSymbol ihren Ausdruck finden.<\/p>\n\n\n\n

                Der achtzehnj\u00e4hrige Herakles, der im Begriffe stand, aus dem\nKnaben- in das J\u00fcnglingsalter \u00fcberzutreten, in dem die J\u00fcnglinge bereits\nselbst\u00e4ndig werden und zeigen, ob sie den Weg der Tugend oder des Lasters zu\nihrem Lebensweg machen wollen, ist aufgebrochen, um seine Existenz zu ordnen.\nEr hat sich in eine einsame Berggegend zur\u00fcckgezogen. Hier in den Bergen \u2013 wohl\nBild f\u00fcr die herausgehobene existenzielle Situation, in der er sich gerade\nbefindet \u2013 will er \u00fcber seinen Lebensweg nachdenken und entscheiden, ob er\nseine Kenntnisse und seine Kr\u00e4fte zum Guten oder zum B\u00f6sen anwenden wird \u2013 also\ner will eine Grundentscheidung treffen. So kommt er an einen Scheideweg. Auf\nden unschl\u00fcssig Dastehenden kommt auf jedem der beiden Pfade eine Frauengestalt\nzu: die eine war in ihrem Auftreten voll Anmut und Bescheidenheit, sie war\nsch\u00f6n anzusehen und edel, ihr Leib war rein, ihre Augen schamhaft, ihre Haltung\nsittsam; Ihre Kleidung war wei\u00df. Ihr Haupt hielt sie gedankenvoll gesenkt. <\/p>\n\n\n\n

                Die andere dagegen schritt stolz und selbstgef\u00e4llig schnell\nauf ihn zu, um der anderen zuvorzukommen. Die andere war wohl gen\u00e4hrt bis zur\nfleischliche und \u00dcppigkeit, sie war geschminkt, sodass sie wei\u00dfe Unr\u00f6te sich\ndarzustellen schien, als sie wirklich war, und ihre Haltung so, dass sie gerade\nzu sein schien als von Natur, die Augen habe sie weit offen gehabt und ein\nKleid aus feinem Stoff getragen, aus dem die jugendliche Sch\u00f6nheit\nhindurchschimmerte \u2013 wiederholt habe sie sich selbst angesehen, aber auch sich\numgesehen, ob sie auch ein anderer beschauende, oft habe sie auch nach ihrem\neigenen Schatten hingesehen. Mit schmeichelnden Worten bietet sie ihm ihren Weg\nals eine Stra\u00dfe voller Freude und Genuss an, die ihm von selbst zufallen\nsollen.<\/p>\n\n\n\n

                Ganz anders h\u00f6ren sich die Worte der bescheiden Auftretenden\nFrau an. Sie dringt auf eine Grundentscheidung, die auf dem Hintergrund des\ngeschichtlichen Werdeganges des Herakles anzusiedeln ist, die seine\nVergangenheit als auch die immer wieder neu zu f\u00e4llenden und diese Optio\nfundamentalis erst realisierenden Folgeentscheidungen nicht unber\u00fccksichtigt\nl\u00e4sst. Erst so kann sich das in Herakles Grundgelegte geschichtlich zu seinem\nihm ad\u00e4quaten Wesen entfalten.<\/p>\n\n\n\n

                Sie fordert einen Entschluss ein \u2013 einen Akt der\ngrundlegenden Autonomie, denn ein solcher Akt der Freiheit und der freien\nEntscheidung geht unserem weiteren Lebensweg voraus, der uns dadurch zurechenbar\nwird und f\u00fcr den wir die Verantwortung tragen. Denn wir k\u00f6nnen sp\u00e4terhin auf\nihn verweisen und ihn als Grund unseres Lebensweges benennen, d.h. unter\nVerweis auf ihn begr\u00fcndend Antwort geben auf die Frage: Warum hast Du Dein\nLeben so gef\u00fchrt, wie Du es gef\u00fchrt hast? <\/p>\n\n\n\n

                So spricht denn die bescheiden daherkommende Frau Herakles folgenderma\u00dfen\nan:<\/p>\n\n\n\n

                “Auch ich sehe, da\u00df du unentschlossen an einem\nScheideweg stehst. H\u00f6re mich an, denn ich kenne deine Eltern, deine\nk\u00f6rperlichen und geistigen Anlagen, deine Lehrer und Erzieher. Du hast von\nihnen alles empfangen, was dich zu einem g\u00fctigen und gro\u00dfen Mann machen kann.\nDoch wisse, der Weg ist steil und steinig, den ich dir zeigen m\u00f6chte, denn ohne\nM\u00fche und Arbeit gew\u00e4hren die G\u00f6tter nicht, was gut und edel ist. Willst du\nernten, so mu\u00dft du s\u00e4en… Wenn du diesen Weg gehst, wirst du dir die ewige\nGl\u00fcckseligkeit erringen.\u201c<\/p>\n\n\n\n

                Herakles w\u00e4hlt diesen Weg. Er ergreift den Kairos, den\nMoment der Grundentscheidung, der ein Moment der Freiheit im Sinne der\nAutonomie ist: Er gibt sich selbst \u2013 gleichsam autonom – ein Gesetz, das sein\nweiteres Handeln und seine weiteren Einzelentscheidungen f\u00fcrderhin\nkonditionieren wird. Seine weitere Geschichte, seine Taten und seine\nEntscheidungen, kurzum seine gesamte Lebenspraxis ist koh\u00e4rent hierzu und best\u00e4tigen\ndie Richtigkeit dieser Grundentscheidung. Er ist dadurch eine identifizierbare\nPerson geworden, dessen Geschichte wir bis heute erz\u00e4hlen.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

                0. EINF\u00dcHRUNG Kairos – so nannten die Schriftsteller und Philosophen des antiken Griechenlands einen besonderen, einen gegl\u00fcckten, einen richtigen und […]<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":1719,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[19,23],"tags":[87,86,88,84,79,80,89,82,83,81,85],"class_list":["post-1858","post","type-post","status-publish","format-standard","has-post-thumbnail","hentry","category-anthropologie","category-ideengeschichte","tag-dogmatismus","tag-entscheidung-und-kairos","tag-fanatismus","tag-geschichtlichkeit-des-menschen","tag-ideengeschichte","tag-kairos","tag-kairos-der-praxis","tag-kairos-und-praxis","tag-optio-fundamentalis","tag-zeit","tag-zeitstruktur-des-menschseins"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1858","targetHints":{"allow":["GET"]}}],"collection":[{"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=1858"}],"version-history":[{"count":9,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1858\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":29593,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1858\/revisions\/29593"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1719"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=1858"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=1858"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/armin-wildfeuer.de\/wordpress\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=1858"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}