Bild: Uhr<\/td> | Bild: Fenster<\/td><\/tr><\/tbody><\/table><\/figure>\n\n\n\n1.1.3 Kairos als das rechte Ma\u00df (\u03bc\u03ad\u03c4\u03c1\u03bf\u03bd)<\/h5>\n\n\n\nDieser Kairos, als Krise des Chronos, ist das Ma\u00df der Zeit,\nim Sinne von Kriterion und Metrion: Er mi\u00dft die Zeitspanne, ist das Ma\u00df und\ndaher selbst nicht me\u00dfbar. Daher hat der Kairos f\u00fcr die Griechen nicht nur\npraktische, sondern auch \u00e4sthetische, ja insbesondere auch eine kosmologische und\nmetaphysische Bedeutung: Als Ma\u00df erzeugt der Kairos Symmetrie, Sch\u00f6nheit, Ordnung,\nZusammenstimmen der Teile, Harmonia. Wie der richtige, der goldene Schnitt in\nder Proportion nicht me\u00dfbar, berechenbar ist, so ist der Schnitt in der Zeit\nauch unberechenbar. Er ist als Ma\u00df der Zeit selbst nicht in der Zeit, sondern\n\u00fcberzeitlich. <\/p>\n\n\n\n In der nachhomerischen\n\u00e4lteren Dichtung<\/strong> kommt \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\ndaher zumeist als Ma\u00dfbegriff vor. Ihm entspricht die best\u00e4ndige Forderung, Ma\u00df\nzu halten, was eine ontologische Vorherrschaft des Kairos voraussetzt. Mit\nErlaubnis von Protagoras k\u00f6nnte man sagen: \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\nist das Ma\u00df aller Dinge. Denn alles, was nach dem \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 ausgerichtet ist, ist auch sch\u00f6n,\nsymmetrisch, harmonisch. Das Fehlen von \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\ndeutet dagegen auf H\u00e4sslichkeit hin. Kairos, so schon Hesiod im 8. Jahrhundert, ist <\/strong>das beste Ma\u00df f\u00fcr alles. Er empfiehlt in seiner Theogonie, in\njeder Handlung den \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2\nzu suchen. Diese Idee durchdrang die ganze altgriechische Literatur. Es wird\nempfohlen, vern\u00fcnftig und ausgeglichen zu sein (\u03b5\u1f50\u03ba\u03cc\u03c3\u03bc\u03c9\u03c2,\n628), bei jeder Entscheidung und Situation Ma\u00df zu halten, die rechte Zeit (\u1f65\u03c1\u03b7 630, 642, 665) zu finden,\ndas rechte Ma\u00df (\u03bc\u03ad\u03c4\u03c1\u03bf\u03bd 648, 694) zu halten und die rechte Wahl (\u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 694) zu treffen \u2013 so die\nbasalen Handlungskriterien f\u00fcr den Menschen. Hier merken sie schon: Kairos ist\ndie Zeit der Wahl und der Entscheidung, die gleichsam auf Messers Schneide\nsteht!<\/p>\n\n\n\nZwei Jahrhunderte nach Hesiod nimmt \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 bei Pindar (518 bis etwa 438) eine neue,\noriginelle Bedeutung an. Kairos bezeichnet nun das richtige Ma\u00df im Bereich der\nRhetorik und der Poetik, d. h. die F\u00e4higkeit, Gedanken und Ereignisse durch die\nRegel der Metrik richtig auszudr\u00fccken. \nBei den Pythagoreern, die in\nder Natur das Vorhandensein von Gesetzen und Zusammenh\u00e4ngen, die sich\nwiederholen, erkennen und diese durch Zahlenverh\u00e4ltnisse ausdr\u00fccken, tr\u00e4gt\nKairos als Eigenschaft der Zahlen mit Seele (\u03c8\u03c5\u03c7\u03b7),\nVernunft (\u03bd\u03bf\u1fe6\u03c2) und\nGerechtigkeit (\u03b4\u03b9\u03ba\u03b1\u03b9\u03bf\u03c3\u03cd\u03bd\u03b7), zum Aufbau der\nkosmischen Harmonie bei.<\/p>\n\n\n\n 1.2 Verbindung der drei Bedeutungen in Rhetorik und Medizin (Gorgias \u2013\nCorpus Hippocraticum)<\/h4>\n\n\n\nIn der Rhetorik und der Medizin gehen die r\u00e4umliche, die\ns\u00e4chliche und die zeitliche Komponente der Kairosvorstellung eine enge\nVerbindung ein. So erhebt Gorgias den\nKairos zu einem wichtigen Topos der Rhetorik. Der Kairos wird zur Norm einer\nauf das Interesse des Augenblicks gerichteten \u00dcberredungstechnik. Kairos wird\naber auch zu einem Zentralbegriff f\u00fcr die Medizin; daf\u00fcr spricht die\nH\u00e4ufigkeit, mit der das Wort im Corpus\nHippocraticum vorkommt. Denn jeder Fall ist einzigartig, jeder Patient\nreagiert auf eine ganz verschiedene Weise auf Medikamente und Behandlungen.\nKairos in der Medizin meint die F\u00e4higkeit, den richtigen Augenblick zu erkennen\nund ihn zu ergreifen, das richtige Ma\u00df an den zu verabreichenden Medikamenten\nund die richtige Zeit f\u00fcr die Behandlung einer Krankheit zu w\u00e4hlen sowie den\ngenauen Eingriffsort zu kennen. Durch den Kairos-Begriff gelingt es mithin Hippokrates, die variablen Elemente der\nmedizinischen Praxis auszudr\u00fccken.<\/p>\n\n\n\n 1.3 Die mystische Komponente: die Entstehung des Kultus des Kairos<\/h4>\n\n\n\nWenn es auf den Kairos r\u00e4umlich, s\u00e4chlich und zeitlich\nankommt, wenn der ganze Kosmos und alle menschlichen Angelegenheiten auf ihn\nangewiesen sind, so dass Kairos auch als ein kosmologisches, ja mystisches\nPrinzip gesehen werden kann, dann ist die Entstehung eines Kultus des Kairos\nnicht verwunderlich. Dieser Kultus kn\u00fcpft sich an einen Altar in Olympia, der\nam Eingang des Stadions lag und f\u00fcr dessen Einweihung der Dichter Ion von Chios (5. Jh. v. Chr.) eine\nHymne schrieb (Paus. 5, 14, 9). Kairos, der Gott des g\u00fcnstigen Augenblicks, ist\nnicht wie Nike, Eirene und Plutos eine urmythische Gottheit. Seine Entstehung\nerfolgte durch die Personifizierung und Verg\u00f6ttlichung einer Idee, in diesem\nFall der Vorstellung, dass es den Wettbewerbern nur dann der olympische Sieg\ngelingen w\u00fcrde, wenn sie die g\u00fcnstige Gelegenheit packen w\u00fcrden.<\/p>\n\n\n\n 1.4 Relativierung des Kairos zur blo\u00dfen Gelegenheit in der Sophistik\n(Protagoras \u2013 Gorgias – Isokrates)<\/h4>\n\n\n\nDie griechische Antike kennt nicht nur die Verg\u00f6ttlichung\ndes Kairos, sondern auch seine vollst\u00e4ndige Entg\u00f6ttlichung und Depotenzierung.\nDenn, so die Sophisten, nicht der von den G\u00f6ttern geschenkte Kairos, sondern\nder Mensch ist das Ma\u00df aller Dinge: \u201eanthropos metron hapaton\u201c, so der ber\u00fchmte\nhomo-mensura-Satz des Protagoras. Damit wird der Mensch ma\u00dfgebend f\u00fcr alles und\nr\u00fcckt ins Zentrum des Universums: die Wirklichkeit hat keinen anderen Sinn als\njenen, den ihr der Mensch beimisst. Jede Sache kann daher durch die kreative\n\u00dcberzeugungskraft des menschlichen Logos\nradikal ge\u00e4ndert werden. Der Sophist Gorgias nennt den Logos daher auch\n\u201eBetr\u00fcger\u201c. Wenn aber die Welt nur mehr Projektion und Konstrukt der\nmenschlichen Vernunft ist, dann kann es auch keinen Kairos mehr geben, der das\nzeitlich, r\u00e4umlich und sachlich Richtige treffen k\u00f6nnte. Denn nun ist alles\nbeliebig, gleich wertvoll und gleich bedeutsam, eben ein blo\u00dfes Konstrukt zum\nBehufe der Interessen des Menschen. Was gerecht und ungerecht ist, wird daher \u2013\nje nach Gelegenheit (Kairos), Situation und Nutzen \u2013 anders bestimmt, mithin\nbeliebig. <\/p>\n\n\n\n Schon der Sch\u00fcler des Gorgias, Isokrates (436-338 v. Chr.),\nhat den Sophisten vorgeworfen, die Bedeutung und die Tiefe des Kairos daher nicht\nbegriffen zu haben. Dass sie nicht wussten, den richtigen Moment zu ergreifen, darin\nsah er den Grund all ihrer Versagen und ihrer Wirkungslosigkeit. Die Erziehung,\nso sein Gegenprogramm, m\u00fcsse die Sch\u00fcler daher bef\u00e4higen, den richtigen\nZeitpunkt (\u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2) durch den Verstand (\u03c6\u03c1\u03cc\u03bd\u03b7\u03c3\u03b9\u03c2) zu erkennen und zu ergreifen.\nDas Wort \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 kommt ungef\u00e4hr hundert Mal in den Schriften des Isokrates vor,\nwas f\u00fcr die Bedeutung und das Interesse spricht, das Isokrates dem Kairos\nzuma\u00df. Denn \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2, so Isokrates, bedeutet Kreativit\u00e4t, verspricht Erfolg, ist\nZeichen von M\u00e4\u00dfigkeit und Kraft, nicht zuletzt im gesellschaftlichen und\npolitischen Bereich. Dieses Modell von \u03c0\u03b1\u03b9\u03b4\u03b5\u03af\u03b1 hat in der Geschichte als\nhumanistisches Bildungsideal Schule gemacht.<\/p>\n\n\n\n 1.5 Transsubjektiv-metaphysische Verankerung des Kairos bei Platon<\/h4>\n\n\n\nDie sophistische These, dass der \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 beliebig das Gerechte und\ndas Ungerechte bestimme, wurde zur Zeit Platons von den Vielen (\u03bf\u1f31 \u03c0\u03bf\u03bb\u03bb\u03bf\u03af)\nvertreten, was f\u00fcr den damaligen Erfolg der Sophisten und ihrer\nrelativistischen Lehre spricht. Was diese selbst anbelangt, \u00e4u\u00dfert sich Platon\nb\u00fcndig und entschieden: sie ist falsch. Denn \u03ba\u03b1\u03b9\u03c1\u03cc\u03c2 w\u00fcrde in diesem Fall\nblo\u00dfe Unbestimmtheit und Beliebigkeit bedeuten. Au\u00dferdem dokumentiere sich in\neinem solchen Verst\u00e4ndnis die Kapitulation der Erkenntnis vor der\nUnentzifferbarkeit des Realen. Bei Platon erh\u00e4lt der Kairos daher seine\ntranssubjektive, auch die kosmologisch-metraphysische Verankerung zur\u00fcck: In\nder metaphysisch unterbauten Ethik der Mesotes, der zufolge das richtige\nHandeln immer das Mittlere zwischen den Extremen ist, figuriert das kairion als\nSynonym von metrion, ikanon, teleon, d.h. als Inbegriff von Grenze,\nVollkommenheit, Einheit und Gl\u00fcck, als das alle hiesige Angemessenheit\nerm\u00f6glichende Urma\u00df. Platon ist \u00fcber die M\u00f6glichkeit, dass der Mensch Herr\nseines Selbst sei und den Kairos selbst bestimmen k\u00f6nne, zumindest skeptisch.\nVielmehr ist es das Schicksal, das den richtigen Zeitpunkt, das richtige Ma\u00df\nund das der Situation Angemessene vorgibt: \u201eDer Gott regiert alles, und mit ihm\ndas Schicksal und der Kairos regieren alle menschlichen Sachen.\u201c (Nomoi 709c). <\/p>\n\n\n\n 1.6 Kairos und Praxis bei Aristoteles<\/h4>\n\n\n\nEin Quantensprung in der Deutung des Kairos tut sich bei\nAristoteles. Er verortet den Kairos innerhalb der praktischen Philosophie und\nder Ethik. Denn das Handeln des Menschen ist nicht durch ein deterministisches\nParadigma im Flusse der Zeit erkl\u00e4rbar. Sondern der Mensch durchbricht im\nkritschen Augenblick der Entscheidung, die seinem konkreten Handeln vorausgeht,\ndie Kette der Kausalit\u00e4t. Der Kairos der Entscheidung schafft mithin Raum f\u00fcr\nfreies Handeln. Aber auch die Umsetzung der Entscheidung in konkretes Tun\nbedarf des Kairos: die Umst\u00e4nde, die den Erfolg der Handlung durch das\nErgreifen der Mittel wesentlich mitbedingen, m\u00fcssen stimmen. Die Situation muss\ng\u00fcnstig sein. Die Menschen sind daher im Handeln frei und f\u00fcr ihre Taten\nverantwortlich: das ist die Hauptbotschaft, die \u2013 folgt man Aristoteles –\nKairos verk\u00fcndet. Kairos ist also nicht nur der kritische Moment, in dem eine\nHandlung durch eine Entscheidung hervorgebracht wird, sondern auch Bedingung\nf\u00fcr das Gelingen dieser Handlung selbst. Ziel alles Handelns ist das Gl\u00fcck, die\nEudaimonia, die darin besteht, dass der Handelnde so handelt, wie es seiner\nNatur, seinem Wesen als vernunftbegabtes Lebewesen entspricht.<\/p>\n\n\n\n Wir tun uns heute schwer, die essentialistischen\nVorannahmen, die eine Rede von der Natur des Menschen leiten, noch\nnachvollziehen zu k\u00f6nnen. Dass die einmalige Existenz des Individuum an einer\nallgemeinen Natur des Menschseins Ma\u00df nehmen soll, ist uns heutigen allerdings\nnicht mehr plausibel. Ich will daher versuchen, ohne essentialistische Bez\u00fcge\ndie Einsicht des Aristoteles aufgreifen, dass von Kairos immer nur im Kontext\nvon freien Entscheidungen und der Praxis des Menschen gesprochen werden kann,\nund diese Einsicht mit Mitteln einer Existentiallogik der Entscheidung\nrekonstruieren. <\/p>\n\n\n\n 2. Die Geschichtlichkeit des Menschen, seine kairotischen Entscheidungen\nund der Kairos der \u201eoptio fundamentalis\u201c<\/h3>\n\n\n\nDer radikale Bruch\nim Denken des 19. Jahrhunderts, der mit Marx, <\/strong>Nietzsche und auf christlicher Seite\nmit S\u00f6ren Kierkegaard vollzogen ist, soll im Rahmen einer Philosophie der\nPraxis den Hintergrund abgeben f\u00fcr eine neue Sicht dessen, was mit Kairos heute\ngemeint sein k\u00f6nnte: denn Praxis wird nun wesentlich geschichtlich gefasst, d.h. als dem konkreten und singul\u00e4ren Werden des\nSubjekts unterworfen. Allgemein beginnt\nman, den Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu entdecken, d.h.. als Subjekt, das sich in\ndem st\u00e4ndigen Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft aufh\u00e4lt, das von\ndem einen motiviert und auf das andere hingeordnet ist und in diesem\nSpannungsverh\u00e4ltnis seine kairotischen Entscheidungen trifft. Mit dem bereits\nerw\u00e4hnten S\u00f6ren Kierkegaard beginnt der Existentialismus, sich des konkreten\nMenschen anzunehmen. Schon bei ihm gilt, was Sartre sp\u00e4ter in Geltung f\u00fcr diese ganze philosophische Str\u00f6mung\nformulieren wird: “DER MENSCH IST NICHTS ANDERES ALS WOZU ER SICH MACHT!” Denn nicht ein festes Wesen\ngeht dem Individuum voraus, sondern er existiert zuerst und im Laufe seines\nLebens erwirbt er sich gleichsam erst das, was ihn als Individuum wesenhaft\nkennzeichnet.<\/p>\n\n\n\nIm Gegensatz zur\nscholastischen und idealistischen\nWesensphilosophie, die das Konkrete des Menschen aus dessen Wesen zu deduzieren\nunternimmt, wird sich das Individuum\njetzt als das privilegierte Sein\nbewusst, das sich sein Wesen in der kontinuierlichen\nAbfolge von Entscheidungsvorg\u00e4ngen selbst setzt, das dadurch die Differenz zu\nsich selbst zu \u00fcberwinden versucht, die es im Verlauf der individuellen\nGeschichte aufzuheben gilt.<\/p>\n\n\n\n Die Geschichtlichkeit des Menschen und die Notwendigkeit zur\nEntscheidung bedingen sich damit gegenseitig. Entscheidungen bilden die\nmarkanten Punkte, die die Geschichtlichkeit des Subjekts konstituieren. Erst\ndie Entscheidung gegen\u00fcber den angebotenen M\u00f6glichkeiten der Zukunft erlaubt\nes, praktisch zu werden, d.h. eine Tat zu setzen, die allerdings auf den\nMenschen selbst wieder konditionierend zur\u00fcckf\u00e4llt.<\/p>\n\n\n\n In einem 2. Punkt ist sich die Lebensphilosophie (Dilthey,\nNietzsche, Bergson) wie die Ph\u00e4nomenologie (Husserl, Scheler, Hartmann) als\nauch die Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers, Sartre) einig: Die sich aus\nEntscheidungen zusammensetzende Geschichtlichkeit des Menschen muss ein diese\nEinzelentscheidungen verbindendes Fundament besitzen, denn ansonsten w\u00e4re das\nKairotische der Einzelentscheidung ein rein zuf\u00e4lliges, nicht selbst\ngestaltetes, mithin etwas Inkoh\u00e4rentes.<\/p>\n\n\n\n \n- F\u00fcr Kierkegaard z.B. ist die Authentizit\u00e4t der\nExistenz vom Entschluss zu einer Grundentscheidung abh\u00e4ngig, die tiefer als\nalle banalen Wahlen des t\u00e4glichen Lebens greift und diese bestimmend \u00fcberformt.\nKierkegaard sieht eine solche Grundentscheidung in der Entscheidung zum Leben\naus dem Glauben, die eine “Lebensanschauung\u201c, “Lebensbetrachtung oder\n– wie er es ebenfalls nennt \u2013 \u201eWeltanschauung” konstituiert.<\/li>\n\n\n\n
- Nietzsche sieht die Willenskraft als Ergebnis\neiner Struktuirierung von Unter-Willen, die erst in ihrer \u00dcberformung durch die\nKraft des Wollens zu einem einheitlichen Strukturganzen menschlichen Lebens\nzusammenwachsen. Erst dieser herrschende Wille erm\u00f6glicht ein Koh\u00e4rentwerden\nmenschlicher Existenz.<\/li>\n\n\n\n
- Analoge Aussagen finden sich in Heideggers\nOntologie der Existenz, Karl Jaspers Ontologie der Transzendenz, in der\nPhilosophie Sartres, Gabriel Marcels, Bergsons und vor allem in Blondel. In\nseiner 1893 erschienenen Dissertation \u201eL\u2018action\u201c (\u201eDie Tat\u201c) erkennt er das\nmenschliche Handeln als wesentlich konditioniert und zusammengehalten durch\ndas, was er “optio fundamentalis\u201c nennt, ein Begriff, der von Thomas von\nAquin in der quaestio 89 seiner summa theologiae zum ersten Mal auftaucht, 600\nJahre lang keine philosophische Behandlung mehr erfahren hatte und heute – zumeist\nim Kontext der Psychoanalyse und Moral – mit \u201eGrund-” oder\n\u201eLebensentscheidung\u201c wiederzugeben w\u00e4re.<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n
Ich will daher im Folgenden versuchen, eine Philosophie der\ndurch Entscheidungen konstituierten Praxis mittels einer \u201eExistentiallogik der\nEntscheidung\u201c zu entwickeln, die menschliches Handeln auf ihre notwendigen\nBedingungen der M\u00f6glichkeit \u00fcberhaupt untersucht. <\/p>\n\n\n\n Drei Bereiche der Reflexion scheinen mir hierbei praktisches\nHandeln zu konstituieren: 1. die Geschichtlichkeit des Menschen, 2. die daraus\nerwachsende Notwendigkeit der Entscheidung zur Tat, und schlie\u00dflich 3. die den\nSinnzusammenhang des Lebens bedingende \u201eOptio fundamentalis\u201c, die\nGrundausrichtung der Handlungen eines Subjekts. Anhand einer logischen Analyse\nder Zeitstruktur der Geschichtlichkeit des Menschen will ich das eine aus dem\nanderen entwickeln.<\/p>\n\n\n\n 2.1 Die Geschichtlichkeit des Menschen<\/h4>\n\n\n\n2.1.1 Definition <\/h5>\n\n\n\nM\u00fcsste man die Geschichtlichkeit des Menschen beschreibend\ndefinieren, so besagte sie eine bestimmte Welt- und Zeitversammelnde\nVerfasstheit des menschlichen Daseins. Das will sagen: durch die\nGeschichtlichkeit steht der Mensch im Spannungsfeld einer immer schon\nvorgegebenen, behaltenen und doch entzogenen Vergangenheit einerseits, einer\nbesorgten, ankommenden und noch ausstehenden Zukunft andererseits. Das konkrete\nWesen des Menschen wird also nicht statisch als fertiges vorgefunden, sondern\nvom Menschen selbst im Dialog zwischen Freiheit und innerwelticher\nKonditionierung, d.h. in der Hinnahme und Auseinandersetzung mit dem ihm\nvorgegebenen Gr\u00fcnden und Bedingungen dieser seiner Freiheit geschaffen. M\u00f6glich\nist diese \u201eSelbstsch\u00f6pfung\u201c des konkreten Wesens dadurch, dass der Mensch jenes\nausgezeichnete Seiende ist, das im Gegensatz zur untermenschlichen Wirklichkeit\ndie Differenz zu sich selbst ist. Das Wesen des Menschen ist damit nicht eine\nvorgegebene Struktur seines Handelns, sondern dem Menschen hat es in seiner\nIndividualgeschichte erst um dieses Wesen zu gehen. <\/p>\n\n\n\n 2.1.2 Analyse der Zeitstruktur des Menschen<\/h5>\n\n\n\nEs bietet sich hierbei eine Analyse der zeitlichen Analyse\nder zeitlichen Struktur jedes menschlichen Handelns an, die dieser\nWesensausbildung zugrunde liegt. Der Mensch befindet sich ja nicht nur\n\u00e4u\u00dferlich in einem objektiv festhaltbaren Zeitraum, sondern seinem Wesenskern\nnach ist er durch den Bezug zur Zeit als subjektiv-gelebte konstituiert, so\ndass Zeitlichkeit als seine innere Strukturform bezeichnet werden kann.<\/p>\n\n\n\n Eine Analyse dieser existentiellen Zeitstrukturiertheit\nerg\u00e4be ungef\u00e4hr folgendes Bild. Anregen hierf\u00fcr lassen wir uns von Augustinus<\/strong> und in dessen Weiterf\u00fchrung\nvon Merleau-Ponty<\/strong>.<\/p>\n\n\n\nAugustinus analysiert im 11. Buch seiner “Confessiones\u201c\nden Bezug des Menschen zur Zeit als “distensio animi”, als\nZerdehntheit der Seele. Er meint damit: die nicht mehr seiende Vergangenheit,\ndie das Jetzt bildende Gegenwart und die noch nicht seiende Zukunft sind nicht\ndrei zusammenhangslose, nebeneinander existierende Zeiten, sondern drei Momente\nmeines pr\u00e4sentischen Bewusstseins. F\u00fcr Augustinus gilt somit: \u201eTempus est in\nanima\u201c. Auf diesem Hintergrund definiert er <\/p>\n\n\n\n \n- die Vergangenheit als “praesens de\npraeteritis\u201c (also als Gegenwart des Vergangenen),<\/li>\n\n\n\n
- die Gegenwart als “praesens de\npraesentibus\u201c (als Gegenwart des Gegenw\u00e4rtigen) und entsprechend<\/li>\n\n\n\n
- die Zukunft als “praesens de futuribus\u201c\n(mithin als Gegenwart des Zuk\u00fcnftigen).<\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n
Die Intentionalit\u00e4t des Vergangenheitsbewu\u00dftseins ist das\nGed\u00e4chtnis, die des Zukunftbewu\u00dftseins das Erwarten. Das Gegenwartsbewu\u00dftsein\nals “praesens de praesentibus” verbindet beide zum Zeitfluss. <\/p>\n\n\n\n \u00dcbrigens: Moderne Ph\u00e4nomenologen wie Husserl, Heidegger und\nin besonderer Weise Merleau-Ponty teilen diese Sicht menschlicher Zeitlichkeit.<\/p>\n\n\n\n So hat etwa Merleau-Ponty diesen Ansatz weitergef\u00fchrt. Er\nsieht in der Zeitlichkeit ein Netz von Intentionen,\n<\/em>wobei er zwei Typen unterscheidet:<\/p>\n\n\n\n\n- Retensionen besorgen das Motiviertsein aus\nVergangenheit.<\/li>\n\n\n\n
- Protensionen lassen den Menschen auf Zukunft hin\norientiert sein. <\/li>\n<\/ul>\n\n\n\n
Beide bilden die “Ekstasen\u201c menschlichen Zeitbewusstseins,\ndie Vergangenheit und Zukunft pr\u00e4sent sein lassen.<\/p>\n\n\n\n Retensionen und Protensionen liefern uns jetzt die Grundlage\nf\u00fcr die Anwendung der logischen Modi auf die Ekstasen des Zeitbewusstseins. So\nsoll die erste der Bedingtheiten von Handeln \u00fcberhaupt gefunden werden.<\/p>\n\n\n\n Zur Anwendung kommen die log. Modi nach Aristoteles: m\u00f6glich\nund unm\u00f6glich, notwendig und kontingent. Im Hintergrund soll dabei immer die\nFrage stehen: Wie ist der \u00dcbergang von Zukunft in Vergangenheit, also das\ngeschichtliche Werden des Menschen, denkbar und was steht am Umbruch, an der\nNahtstelle dieses \u00dcbergangs? Die Intentionalit\u00e4tsdifferenz von Re- und\nProtension wird entsprechend differenter Logiken bed\u00fcrfen.<\/p>\n\n\n\n So verlangt die Zukunft als Ort der Protension eine Logik\nder Kontingenz oder der Nicht-Exklusion,\nd.h. Zukunft ist Ort der reinen M\u00f6glichkeit, der Alternativen, die noch offen\nsind. Zukunft ist der Ort des Sollens, des ethischen Handelns. Sprechen von\nZukunft ist immer ein Sprechen in Alternativen. Sowohl das eine als auch das\nandere kann m\u00f6glich sein. Die Bezogenheit auf Zukunft in ihrer kontingenten\nLogik bietet mir somit die M\u00f6glichkeit, Freiheit zu aktuieren und konkret\nwerden zu lassen. Das M\u00f6gliche und Kontingente l\u00e4sst sich ja nicht mit dem\nNotwendigen verbinden: ein m\u00f6glich Notwendiges ist eine contradictio in se.<\/p>\n\n\n\n Auf die Vergangenheit und unser Bewusstsein davon wird\nentsprechend eine Logik der Notwendigkeit zur Anwendung kommen m\u00fcssen. Einmal\nvergangen Geschehenes ist unver\u00e4nderbar; ohne Alternativen bleibt die Retension\ndarauf fixiert. Vergangenes konditioniert uns damit und wird ein Teil im\nProzess unseres Werdens.<\/p>\n\n\n\n 2.2 Entscheidung als kairotischer Hiatus des \u00dcbergangs von Zukunft in Vergangenheit<\/h4>\n\n\n\nBisher haben wir noch nicht beantwortet, wie sich auf dem\nHintergrund der Ekstasen des Zeitbewu\u00dftseins, Pro- und Retension, der \u00dcbergang\nvon Zukunft in Vergangenheit, von M\u00f6glichem in Notwendiges vollzieht.<\/p>\n\n\n\n Zu antworten w\u00e4re mit dem Begriff der Entscheidung, die\nihren eigenen Kairos hat. Sie sch\u00f6pft die ganze aktuelle F\u00e4higkeit des Handelns\naus. Durch Entscheidung f\u00fcr die eine oder die andere M\u00f6glichkeit, die mir\nprotensionell geboten sind, wende ich mich in absoluter Weise einer\nnicht-absoluten M\u00f6glichkeit zu. Im \u00dcbergang von Zukunft in Vergangenheit\nbefindet sich gleichsam als Hiatus die immer zwischengeschaltete Entscheidung,\ndie irrevokablen Charakter hat, da sie sich auf eine der angebotenen\nM\u00f6glichkeiten festlegt und sie in Notwendigkeit bzw. Wirkliches \u00fcberf\u00fchrt. Das\nErgebnis dieses meines Entscheidens, das Vergangenheit geworden ist, bildet\njetzt eine st\u00e4ndige Bedingung meines weiteren Tuns. So l\u00e4\u00dft sich sagen, da\u00df\nZukunft wesentlich bereits Zukunft eines Vergangenen ist, da die Vergangenheit\ngewordene Entscheidung f\u00fcr eine ehemals zuk\u00fcnftige M\u00f6glichkeit mich in der Wahl\nneuer M\u00f6glichkeiten einschr\u00e4nkt. (anders gewendet: das, was ich durch\nvergangene Entscheidungen zu meiner Wirklichkeit gemacht habe, konditioniert\nmeine Zukunft mit). Die Einheit menschlicher Zeitlichkeit ist damit als\nkonstituiert anzusehen durch die Dezisionalit\u00e4t. Der Mensch kann und mu\u00df sich\nentscheiden. Jeder Augenblick des zeitlichen Ablaufes fordert mir eine\nEntscheidung ab. Je bewu\u00dfter ich diese ergreife, desto mehr und desto koh\u00e4renter\nforme ich das mein nach Konkretisierung rufendes Wesen selbst, das im Ertrag\ndie Summe meiner Entscheidungen ist, die in meine konkrete Praxis m\u00fcnden.\nEntscheidung m\u00fc\u00dfte daher Grundkategorie einer die konkrete Existenz ad\u00e4quat\neinholen wollenden Philosophie der Praxis sein.<\/p>\n\n\n\n Betrachten wir hierzu thesenartig die Vielfalt der Bez\u00fcge,\nin denen eine Entscheidung steht, um ihr Wesen zu erhellen.<\/p>\n\n\n\n Zwei Momente kennzeichnen eine Entscheidungssituation: <\/p>\n\n\n\n |