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Der Menschenwürdegedanke ist – trotz seiner in Deklarationen und Verfassungen quasi offiziell festgestellten Konsensualität und Un­ver­zicht­bar­keit – dem Verdacht ausgesetzt, lediglich eine ideologisch beliebig füll- und instrumentalisierbare ‚Leerformel’ zu sein, der sowohl ein rational ausweisbarer Inhalt wie auch die Möglichkeit der argumentativen Operationalisierung im ethischen Diskurs fehlt. Beigetragen dazu, dass dieser Verdacht aufgekommen ist, haben nicht zuletzt der tatsächlich feststellbare inflationäre Gebrauch und die Allgegenwart des Menschenwürdebegriffs im öffentlichen Diskurs. Denn wenn Begriffe für alles und jedes herhalten müssen, dann verlieren sie ihre Kontur, mithin ihre begriffliche Schärfe, die wesentlich von ihrer Abgrenzbarkeit gegen andere Begriffe bedingt ist.[1] Denn Begriffe bedürfen, um orientierend und sinnvoll verwendbar zu sein, einer ihren Anwendungs- und Geltungsbereich einschränkenden Grenzziehung (definitio). Diese resultiert einerseits aus der klaren Bestimmung des Gehaltes oder der Bedeutung eines Begriffs (semantischer Aspekt, Problem der Intension bzw. der Bestimmung des Begriffsinhalts) und – bei moralisch relevanten Begriffen – zusätzlich der Gel­tungsbegründung des darin formulierten Anspruchs (normativer Aspekt), ander­er­seits aus der eindeutigen Festlegung dessen, auf was oder wen der Begriff anwendbar ist (Problem der Extension, des Begriffsumfangs bzw. der Ausdehnung des Begriffs). Können Begriffe diese Abgrenzungsbedingungen nicht erfüllen, dann können sie zu Recht als ‚Leerformeln’ gelten. Sie sind – wenn man so will – eine Art ‚Dekoration’[2] und nur nützlich insofern, als sie zum einen eine lediglich emotionale, mithin auch argumentativ-diskursiv nicht einholbare Überein­stimmung zwischen Sprecher und Hörer erzeugen und dadurch eine konsensfähige Lösung suggerieren, die rational nicht gegeben ist, zum anderen weil sie die subjektive Ansicht des Sprechers mit dem Anschein objektiver Glaubwürdigkeit umgeben, ohne sich auf einen Begriffsinhalt festlegen, nachvollziehbare Begründungen für die Geltung des formulierten Anspruchs aufweisen und eine genaue Angabe der daraus abzuleitenden Handlungskonsequenzen liefern zu müssen. ‚Leerformeln’ aber immunisieren und verstärken sich allein schon da­durch, dass sie ihren inflationären Gebrauch durch Unschärfe allererst provo­zie­ren und prolungieren. Gleichzeitig verlieren sie ihre normative Kraft und wer­den zur bloßen rhetorischen Geste – „voller Konnotation, aber ohne Denota­tion“ (D. Birnbacher 1995).

Dass auch die Berufung auf die Menschenwürde dem Verdacht ausgesetzt ist, eine solche ‚Leerformel’ zu sein, ist Reaktion auf unterschiedliche Einwände gegen die Notwendigkeit, die Validität und die Tragfähigkeit des Menschenwürdeprinzips bzw. auf die Schwierigkeiten, mit denen der Begriff behaftet ist:

 

1. Ein erster Einwand verweist auf die semantische Mehrdeutigkeit des Begriffs, auf die D. Birnbacher nachdrücklich hingewiesen hat. Sie seien der hauptsächliche Grund, warum der Begriff „immer wieder Anlass zu Irritationen“ gebe (D. Birnbacher 1995; vgl. 1990). Die Einheitlichkeit und Homogenität des Begriffs sei schon dadurch aufgelöst, dass bereits in seiner allgemeinen bildungssprachlichen Verwendung zwischen einer (konkreten) Individualwürde (bezogen auf lebende Menschen) und einer (abstrakten) Gattungswürde (bezogen auf das menschliche Leben insgesamt) unterschieden werde. Darüber hinaus finde der Begriff auch Anwendung auf die frühen und die residualen Stadien menschlicher Existenz (z. B. auf menschliche Embryonen, Föten und Leichen).[3] Darüber hinaus begegnet auch die normative Rede von einem „menschenwürdigen Leben“, die Maß nimmt an einer bestimmten Vorstellung vom gelingenden Leben, einer Vorstellung, die zwar im Rahmen einer aristotelisch-thomanischen Ethik plausibilisierbar und für „geschlossene Gesellschaften“ verbindlich zu machen, aber im modernen Kontext der Pluralisierung der Ethiken und Lebensentwürfe kaum mehr nachzuvollziehen sei.

 

2. Verwirrend wirke auch – so ein zweiter Einwand – die Vielzahl der unterschiedlichen Verwendungskontexte, in denen der Begriff eine normative Rolle spielt – wie etwa dem Recht, der Politik, der Anthropologie, aber auch der Theo­logie –, so dass bezweifelt wird, ob es einen diese Kontexte übersteigenden gemeinsamen Gehalt des Begriffs überhaupt geben könne.

 

3. Nachteilig insbesondere für die Plausibilität des Würdegedankens wirke sich – so ein weiterer Einwand – aus, dass die Geltung des Prinzips Menschenwürde mit einer Vielzahl von teils konkurrierenden, teils sich gar ausschließenden Begründungsstrategien zu sichern versucht wird. Auch lasse sich angesichts der Vielzahl der begrifflichen Bestimmungsversuche von Menschenwürde bei dem Versuch, konsensfähige Plausibilisierungen oder Operationalisierungsstrategien anzugeben, „eine gewisse Ratlosigkeit nicht leugnen“ (J.-P. Wils 1989, 149). Denn es sei schwierig, angesichts von transzendentalphilosophischen Begründungen, wie sie sich paradigmatisch bei Immanuel Kant finden, über naturrechtliche, rationalistische, substanzontologische, romantische, transzendentalpragmatische, ästhetische wie existentialistische, aber auch kom­munikationstheoretische Ausprägungen des Begriffs Menschenwürde auf den ersten und sogar noch auf den zweiten Blick einen gemeinsamen Nukleus zu finden, der so etwas wie einen rationalen Kern des Gedankens erkennen lasse.

 

4. Ein weiterer Einwand lautet, der Gedanke der Menschenwürde sei in seiner Konstitution abhängig von den jeweilig vorherrschenden Anthropologien und Metaphysiken, die den Menschen entweder zum Halbgott stilisieren oder als Tier betrachten.[4] Vor allem verdanke sich der Menschenwürdegedanke einer dualistischen Vernunftanthropologie, die das Besondere des Menschen im Vernunftbesitz suche und daher notwendig das Körperlich-Sinnliche abwerte – mit der negativen Folge einer einseitig asketisch-entleiblichten Moral.[5] Solche Anthropologien aber verdanken sich immer einer historisch-kontingenten Erfahrung, sie sind mithin zeitbedingt, theorie- und weltanschauungsabhängig, so dass der Gedanke der Menschenwürde den Anspruch seiner überzeitlichen Geltung per se nicht einlösen könne. Auch das immer wieder zu hörende Argument, der Gedanke der Menschenwürde sei nur im Rahmen einer bestimmten Metaphysik verstehbar, wie sie das Denken des Abendlandes geprägt habe, hat hier seinen gedanklichen Ort. Da der Menschenwürdegedanke aber ohne diese metaphysische Hinterwelt nicht zu plausibilisieren sei, so wird gefolgert, ist er anderen Kulturen nur aus einer Haltung des Eurozentrismus, mithin kulturimperialistisch, zu vermitteln. Erschwerend komme hinzu, dass diese abendländische Metaphysik, die zum aristotelisch-thomistischen Substanzdenken, zum antiken und neuzeitlichen Naturrecht und zum Letztbegründungsanspruch der Philosophie insgesamt geführt habe, zunehmend seit der Neuzeit an Plausibilität eingebüßt habe und in der Moderne, schon gar in der Postmoderne, zu einer „Ethik ohne Metaphysik“ (G. Patzig 1983) nicht mehr passe. Das von solchen historischen Positionen abhängige Konzept der Menschenwürde könne daher für die Orientierung moralisch-sittlicher Diskurse in der Moderne nicht mehr tauglich sein.

 

5. Ein weiterer Einwand bezieht sich auf das Problem von Geltung und Genese des Menschenwürdegedankens. Denn die Geltung des Prinzips kranke daran, dass die Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechte sich einem historisch-kontingenten, d. h. einem nicht-notwendigen Prozess verdankt, der in einer komplexen ideengeschichtlichen Entwicklung von der Stoa ausgehend über das christliche Mittelalter, den Renaissance-Humanismus, die Neuzeit und die Aufklärung erst sehr spät in einem Ethos der Menschenrechte und der Menschenwürde kulminierte. Erst im 18. Jahrhundert und im Zug der durch die Auf­klärung bedingten politischen Umwälzungen beginnt sich die Überzeugung, alle Menschen seien – trotz aller natürlichen Ungleichheiten – rechtlich und ethisch einander gleichgestellt und von ihrem moralischen Status her von gleicher Würde, zu etablieren und Spuren in den Verfassungen der ersten ‚modernen’ Staaten zu hinterlassen.[6] Da aber die historisch-kontingente Genese und Anerkennung von Normen allein nicht schon per se deren Geltung rechtfertigt – selbst wenn sie auf allgemeine Zustimmung stoßen –, wie kann dann, so wird gefragt, etwas unbedingt verbindlich sein, dessen normative Setzung von einem historisch-kontingenten Ursprung ausgeht und sich einem geschichtlich gewordenen Anerkennungsprozess verdankt? Was geschichtlich geworden ist, könne dann, wenn die Kategorie ihre historisch gewachsene Plausibilität einbüßt, auch wieder verschwinden.

 

6. Ein weiterer Einwand gegen die Validität des Menschenwürdeprinzips ist die vermeintliche Unklarheit, ja Inkonsistenz der normativen Implikationen und Konsequenzen, die mit dem Begriff verbunden sind. Tatsächlich nehmen vom Ergebnis her sich ausschließende Positionen zur Begründung ihrer Ansprüche gleichermaßen auf die Menschenwürde Bezug, etwa dann, wenn das Recht auf Abtreibung mit der im Selbstbestimmungsrecht sich manifestierenden Würde der Frau ebenso verteidigt wird wie das Lebensrecht des Kindes mit der Würde des ungeborenen Kindes. Hinzu komme, so ein weiterer Einwand, dass die Lehre von der besonderen Würde menschlichen Lebens selbst inkonsistent und damit „intellectually unsatisfactory“ (J. Glover 1977, 59) sei, da sie ihr absolutes Credo in der Praxis, z. B. in Situationen von Notwehr und Krieg, nicht uneinge­schränkt durchhalten könne. Bereits Friedrich Nietzsche (1844-1900) gebrauchte das Inkonsistenzargument mit Blick auf die Kriegsführung, die „die Vernichtung von ‚würdevollen’ Menschen zum Zwecke hat.“[7] Gerade also zur Lösung von moralischen Konfliktfällen trage das Prinzip, so der Vorwurf, nichts bei.[8] Und obgleich es – insbesondere innerhalb von Ethikansätzen vor allem Kantischer Provenienz – nicht an Versuchen weder der begrifflichen Präzisierung noch der argumentativen Operationalisierung des Begriffs gefehlt hat,[9] machen die meisten Theorien der zeitgenössischen philosophischen Ethik vom Menschenwürdeargument für die Begründung der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens argumentations- und begründungslogisch keinen Gebrauch oder stehen ihm reserviert bis ablehnend gegenüber. Insbesondere im Raum der angelsächsischen Philosophie ist der Menschenwürdekategorie – sieht man von theologisch-christlichen Verwendungskontexten ab – ein argumentatives Mauerblümchendasein beschieden geblieben, nicht zuletzt auch deswegen, weil bei moralischen Begründungsfragen an die Stelle von letzten Prinzipien zunehmend „mittlere Prinzipien“, „Prinzipien mittlerer Reichweite“ bzw. „mittlere Axiome“ treten, die die Last ihrer Begründungsproblematik gegen die intuitive Plausibilität ihrer Geltung wie den Vorteil ihrer direkten sektoralen Implementierbarkeit eingetauscht haben.[10] Vielfach ist der Begriff der Menschenwürde nur mehr eine Cover-Chiffre, mit der sich Ethikansätze, die in der Tradition kontinentaleuropäischer Geistesgeschichte stehen, schmücken. Begründungs- und argumentationslogisch relevant wird das Argument von der Würde des Menschen nur selten. Dies mag auch daran liegen, dass der Würdegedanke – so ein zusätzlicher Einwand – letztlich als redundant betrachtet wird, insofern er dem Verdacht ausgesetzt ist, sich darin zu erschöpfen, bestimmte unabhängig anerkannte Moral- und Rechtsprinzipien (wie das Prinzip der Nichtschädigung, der Achtung des Selbstbestimmungsrechts etc.) nur mit zusätzlicher Emphase zu versehen. Insbesondere utilitaristische Ethikkonzeptionen, die gemeinhin zu Recht als Ge­genentwurf einer vom Menschenwürdedenken inspirierten Ethik gelten dürfen, sehen sich angesichts der angedeuteten Theorieprobleme in ihrer Ablehnung der Menschenwürdekategorie bestätigt.

 

7. Ein weiterer Vorwurf lautet, Menschenwürde sei eine willkürliche Selbstauszeichnung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen. Folgt man etwa Peter Singer, dann ist Menschenwürde letztlich eine willkürliche, da bloß an der biologischen Speziesgrenze homo sapiens Maß nehmende Zuschreibung von Schutzwürdigkeit. Denn die Lehre von der ‚Heiligkeit des Lebens’ – und die auf den Gedanken der absoluten Unantastbarkeit hin ausgerichtete ‚sanctity of life-doctrine’ wird in der angelsächsischen Debatte vielfach, aber irrtümlicherweise mit dem Menschenwürdeargument gleichgesetzt[11] – werde allein aus der biologischen Taxonomie gewonnen und basiere lediglich auf einem unbegründbaren „Speziesismus“ (P. Singer 1994, 82-94).[12] Menschenwürde sei daher ein exklusiver Begriff bzw. ein Differenzprinzip. Es zu akzeptieren bedeute, die menschliche Gattung gegenüber anderen Gattungen zu privilegieren. Menschliches Leben aber sei für sich betrachtet eine rein biologische, naturwissen­schaftlich konstatierbare, moralisch jedoch irrelevante Eigenschaft.

 

8. Damit ist ein weiterer Einwand angesprochen, der auf die mangelnde Rationalisierbarkeit des Menschenwürdegedankens zielt. Genährt wird dieser Vor­wurf nicht zuletzt dann, wenn – wie dies nicht selten von Seiten christlicher Denker geschieht – die Behauptung aufgestellt wird, die Menschenwürde lasse sich nur entweder glauben oder leugnen, oder wenn Hans Urs von Balthasar mit Nachdruck unterstreicht, sie sei „philosophisch nicht zu begründen“, sondern nur in einem theologischen Zusammenhang verstehbar, sie sei mithin ein Theologoumenon, das sich ausschließlich dem Gottebenbildlichkeitsdenken verdanke (H. U. v. Balthasar 1967, 274). Träfe dies in dieser Ausschließlichkeit tatsächlich zu und gäbe es mithin keinen auch rein rational rekonstruierbaren und plausibilisierbaren, von Glaubensinhalten wie weltanschaulichen Implikationen unabhängigen Kern des Gedankens, dann müsste der Menschenwürdegedanke in einem säkularen oder interkulturellen Umfeld notwendig seine Plausibilität, seine Diskursfähigkeit und seine Verbindlichkeit einbüßen. Als „eine Art Glaubensartikel“ (D. Birnbacher 1995) wäre Menschenwürde dann tatsächlich ein „conversation stopper“[13], ein „Totschlag-“ oder „knock-down-Argument“. Es wäre dann nur konsequent zu behaupten, dass ohne den reli­giös-weltanschau­li­chen Herkunftskontext vom Begriff der „Menschenwürde“ nichts wei­ter übrig bliebe als eine „Leerformel“ (N. Hoerster 1983, 93), die sich als eine Beschwörungsstrategie angesichts von Argumentationssnöten und als willkürliche, ideologische Selbstauszeichnung des Menschen erweise. Sie gehöre zu den „fine phrases“, zur „last ressource“ derjenigen, „who have run out of arguments“ (P. Singer 1978, 159). Wer diesem bloß emphatischen Begriff im öffentlichen Disput die moralische Orientierungsleistung abspricht oder dessen argumentative Plausibilität in Frage stellt, läuft Gefahr, den Vorwurf des Tabubruchs oder zumindest des Verstoßes gegen die „political correctness“ auf sich zu ziehen. Auch Werner Maihofer zweifelt daran, ob der Begriff in juristischen Kontexten neben seinem Status als „Bekenntnis“ überhaupt noch irgendeine Erkenntnis freizusetzen erlaube (W. Maihofer 1968, 10). Für Friedrich Nietzsche ist Menschenwürde ein „gesalbter Spruch“, ein „feierlicher Zuspruch“[14], ein Zeichen der Dekadenz. Redeweisen wie „Würde des Menschen“ gehörten zu den „schönen Verführungs- und Beruhigungsworten“ einer Epigonenkultur, die ideologisch auf einer optimistischen Betrachtung des Daseins beruhen.[15] Es sind tröstende „Begriffs-Hallizunationen“[16]. Das Menschenwürdeargument leiste mit­hin nicht wirklich das, so das Resümee, was es verspreche: nämlich unter den Bedingungen der Pluralisierung der Moralvorstellungen wie auch der Vielfalt ethischer Begründungstheorien ein konsensueller Bezugspunkt zu sein für die gemeinsame Urteilsfindung in moralisch problematischen Entscheidungssituationen.

 

9. Daran lässt sich ein weiterer Einwand anschließen, der besagt, Menschenwürde sei lediglich eine substanzlose Surrogatkategorie, mit der anderweitig nicht lösbare soziale oder lebensweltliche Probleme einer vordergründigen Lösung zugeführt werden sollen. Folgt man Friedrich Nietzsche, dann verdankt sich die Rede von der Menschenwürde nur dem moralischen Ressentiment, mit dem die sozial Benachteiligten eine Vorteil für sich ziehen wollen.[17] Für Albert Camus (1913-1960) ist sie gar die aktivistische Antwort auf die objektive Sinnlosigkeit des Lebens.[18]

 

10. Ein letzter Einwand verweist gar auf die Gefährlichkeit, ja Inhumanität des Menschenwürdeprinzips. Selbst das Argument, man könne trotz begründungstheoretischer Schwierigkeiten, aber wegen der sich daraus ergebenden positiven Konsequenzen für den gegenseitigen Respekt ernsthaft gar nicht wollen, auf die Menschenwürdekategorie zu verzichten, wird hierbei mit dem Hinweis auf die Verwerfungen entkräftet, die das Prinzip vorgeblich verursacht habe. Denn Menschenwürde als die Zentralkategorie des seinerseits in den Verdacht geratenen klassischen Humanismus sei nicht nur eine ‚Leerformel’, sondern dazu auch noch gefährlich.[19] So ist von Max Horkheimers (1895-1973) und Theodor W. Adornos (1903-1969) in der Dialektik der Aufklärung grundgelegten Diktum ein Schock ausgegangen, nämlich dass Humanität ihrerseits zur Ideologie der Entmenschlichung verkommen könne und unter dem Deckmantel des Humanum die Enthumanisierung vorangetrieben wurde. „Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung.“ (T. W. Adorno 1977, 452) Ähnlich hat rückblickend auf die zivilisationskritische Philosophie Jean Jacques Rousseaus (1712-1778) Claude Lévi-Strauss gerade dem Begriff „Menschenwürde“ eine tiefere Würdelosigkeit attestiert, die sich zunächst in der unterwerfenden Dichotomie von Natur versus Kultur bemerkbar mache. Er spricht vom „Mythos von der ausschließlichen Würde der menschlichen Natur“ als Ursprung einer ersten, aber folgenreichen „Verstümmelung“ (C. Lévi-Strauss 1975, 53) der Natur. Denn durch die ausschließlichen Selbstauszeichnung des Menschen mit Würde sei alles Naturhafte einer „zivilisatorischen Liquidierung“ ausgesetzt, die nur mehr durch eine radikale Selbstbescheidung, eine „zivilisationsmüde Askese“ (J.-P. Wils 1989, 131) des Menschen und den Verzicht auf jede Sonderstellung therapiert werden könne.[20] Menschenwürde – primär ein Differenzprinzip und im Kern bloß eine Diskriminierungsformel? Radikale Öko-Ethiker, erst recht extreme Tierethiker hören das gerne, auch wenn unausgemacht bleibt, ob der Verzicht auf die Kategorie „Menschenwürde“ eo ipso schon die Respektierung der nicht-menschlichen belebten Natur befördern würde.[21]

 

[1] Vgl. P. F. Strawson 1952, 5: „A word that we are prepared to apply to everything without exception (…) would be useless for the purposes of description. For when we say that a thing is like, we not only compare it with other things, we also distinguish it from other things. (These are not two activities, but two aspects of the same activity.)“

[2] In Anlehnung an G. Marcel 1966, 159: „ein dekorativer Begriff von der Würde (…), mit dem sich die Macht umgibt.“

[3] „Bereits in seiner alltäglichen Verwendung – und erst recht in seiner juristischen Verwendung – stellt sich der Begriff also als alles andere als einheitlich und homogen dar. Er weist vielmehr eine regelrechte Familie von Bedeutungen auf, deren Mitglieder sich nicht nur semantisch, sondern auch syntaktisch unterschiedlich verhalten. Während Menschenwürde in ihrer Kernbedeutung eines individuellen Subjekts als Träger bedarf, bedarf es für die erweiterten Bedeutungen eines solchen Trägers nicht: Dem grammatischen Subjekt braucht kein reales Subjekt zu entsprechen. Dies ist offensichtlich für den Fall, dass der Begriff auf die Gattung als solche angewendet wird, aber es gilt auch für seine Anwendungen auf die menschliche Zygote und den frühen menschlichen Embryo, Wesen, die man nur mit Mühe als ‚reale Subjekte’ auffassen kann.“ (D. Birnbacher 1995)

[4] Sehr eindrücklich hat dies David Hume in seinem Essay Dignity or Meanness of Human Nature (1757) als zweideutige Position der Aufklärung beschrieben: „Some exalt our species to the skies, and represent man as a kind of human demigod, who derives his origin from heaven, and retains evident marks of his lineage and descent. Others insist upon the blind sides of human nature, and can discover nothing, except vanity, in which man surpasses the other animals.” (D. Hume 1882, Bd. 2, 151)

[5] „Die Herabsetzung des Würdebegriffs in Deutschland während der Zeit, die auf die Auflösung der klassischen idealistischen Philosophie folgte, begleitete den Untergang der dualistischen Vernunftanthropologie […]“ (P. Kondylis 1993, 672).

[6] Vgl. die begriffs- und ideengeschichtlichen sowie den Sprachgebrauch dokumentierenden Darstellungen von H. Baker 1975, R.-P. Horstmann 1980 und P. Kondylis 1993.

[7] Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Der griechische Staat von 1872, F. Nietzsche 1973, Bd. 3, 284f.

[8] In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 13.01.2002 wird unter der Überschrift „Hilft das Prinzip Menschenwürde in Konfliktfällen?“ ein namentlich nicht gezeichneter Beitrag mit folgendem Satz eröffnet: „Wer für den Embryo im Reagenzglas den gleichen Lebens- und Würdeschutz wie für geborene Menschen postuliert, kann keine lebensnahen Antworten auf praktische Probleme geben. Beispiel Abtreibung: Gilt das Lebensrecht absolut, kann Abtreibung nur bei Lebensgefahr für die Mutter legitim sein. Eine solche restriktive Regelung aber würde nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Frau beschränken, sondern eine Praxis kriminalisieren, die nie verschwinden wird.“

[9] Siehe etwa F. Böckle u. G. Höver 1985, G. D. Bandzeladze 1987, L. Honnefelder 1987, G. Schirmer et al. 1987, R. Spaemann 1987, W. Wolbert 1987, J.-P. Wils 1989, A. Fleischer 1991, L. Honnefelder 1991, G. Lensch 1991, H. Wagner 1992, H. Hofmann 1993, T. Brose u. M. Lutz-Bachmann 1994, L. Honnefelder 1994, W. Schweidler 1994, G. Löhrer 1995, P. Magnard 1995, E. Schockenhoff 1996, W. Brugger 1997, H. M. Baumgartner et al. 1998, M. Crespo 1998, H.-C. Schmitt u. H. Kössler 1998, J. Schwartländer 1998, F. J. Wetz 1998, P. Balzer et al. 1999, M. A. Cattaneo 1999, M.-L. Pavia 1999, W. Vögele 2000, I. Baldermann u. P. D. Hanson 2001, R. Spaemann 2001.

[10] Zur Begründung dieser „common-sense“-Position vgl. S. E. Toulmin 1970, 1993 sowie A. R. Jonsen u. S. E. Toulmin 1988.

[11] So etwa auch bei H. Kuhse 1994. Die Gleichsetzung des Menschenwürdegedankens mit der ‚sanctity of life-doctrine’ ist freilich schlichtweg falsch. Das Argument von der ‚Heiligkeit des Lebens’ impliziert die absolute Unantastbarkeit menschlichen Lebens, von der es – unter welchen Umständen auch immer – keine Ausnahmen geben dürfte. In diesem Sinne wurde das Argument tatsächlich auch v. a. in der amerikanischen Abtreibungsdebatte bemüht. Es ist – und hier ist Kuhse Recht zu geben – „intellectually insatisfactory“ (vgl. zur Debatte K. Bayertz 1996, R. L. Barry 2002), weil die darin geforderte absolute Schutzwürdigkeit des Lebens tatsächlich nicht durchzuhalten ist. Dieser Einwand trifft bereits auf das von Albert Schweitzer propagierte Prinzip einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu (vgl. A. Schweitzer u. H. W. Bähr 1991). Weil viele Autoren den Begriff ‚Menschenwürde’ inzwischen so verwenden, dass er mit dem Prinzip der ‚Heiligkeit des Lebens’ in nahezu allen Hinsichten zusammenfällt, so als hätte der Schutz der Menschenwürde den Schutz des Lebens zum alleinigen oder zentralen Inhalt, weist D. Birnbacher 1995 warnend auf „die mit diesem Begriff verbundene Tendenz zur Verwischung wichtiger begrifflicher Unterschiede“ hin. Beide Prinzipien fallen nämlich keineswegs zusammen, wie sich an wichtigen Konfliktfällen (Suizid, Sterbehilfe auf Verlangen) zeigen lasse. Auch die christlich-theologische Tradition verbietet eine vitalistische Verabsolutierung des ‚Lebens’. Anders als oft unterstellt, spricht sie nicht von vita sancta oder sanctitas vitae, sondern von vita sacra und sacritas vitae, was die Unantastbarkeit des Ursprungs menschlichen Lebens, nicht aber die absolute Unantastbarkeit des physischen Lebens selbst zum Ausdruck bringt. Sie macht damit zugleich geltend, dass es Grenzen des Geschöpflichen gibt, die der Mensch nicht ohne Tangierung seines Selbstverständnisses überschreiten kann. Sie ist der Überzeugung, dass diese Grenzen nicht mittels des Prinzips der Güterabwägung allein hinreichend gezogen werden können. Nicht umsonst spielt das Argument der ‚Heiligkeit des Lebens’ weder in der moraltheologischen Tradition noch in lehramtlichen Äußerungen der Katholischen Kirche eine Rolle. Es ist traditionslos und taucht erstmals in der Enzyklika Evangelium vitae (Nr. 39) auf und bildet dort die normative, moralisch relevante Variante des theologischen Gedankens der Gottebenbildlichkeit: „Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber verfügen. Gott selbst bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut: ‚Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder’ (Gen 9,5). Und der biblische Text ist darauf bedacht zu unterstreichen, dass die Heiligkeit des Lebens in Gott und in seinem Schöpfungswerk begründet ist: ‚Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht’ (Gen 9,6).“ Wie sich zeigt, ist die Formel von der ‚Heiligkeit des Lebens’ mehr theologische Chiffre als rational-operationalisierbares Argument und selbst dann angemessen nur zu verstehen im Sinne einer theologischen Überhöhungsformel, mit der sich die christliche Glaubensgemeinschaft ad intra, also ‚nach innen’ der besonderen Schutzwürdigkeit des Menschen auch mit einem theologischen Argument versichert, indem sie auf die normativen Konsequenzen des Gottebenbildlichkeitsgedankens aufmerksam macht.

[12] Der Begriff ‚Speziesismus’ wurde von Richard Ryder (1989) zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eingeführt zur Bezeichnung der willkürliche Benachteiligung anderer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tierart. Peter Singer hat den Begriff im polemischen Sinne als Kritik an der Privilegierung menschlicher Interessen gegenüber den Interessen nicht-menschlicher Lebewesen übernommen.

[13] Zum Begriff „conversation stopper“ siehe R. Rorty 1994.

[14] Also sprach Zarathustra [1887], F. Nietzsche 1973, Bd. 2, 544.

[15] Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik [1886], F. Nietzsche 1973, Bd. 1, 100.

[16] Fünf Reden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Der griechische Staat [1872], F. Nietzsche 1973, Bd. 3, 275f.

[17] „Man protestiert im Namen der ‚Menschenwürde’: das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleichgestellt-sein, das Öffentlich-niedriger-geschätzt werden als das härteste Los empfindet.“ (Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1886], F. Nietzsche 1973, Bd. 1, 674)

[18] „Le seule dignité de l’homme: la révolte tenace contre sa condition, la persévérance dans un effort tenu pour stérile.“ (A. Camus 1962, 106)

[19] „Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug?“ (M. Heidegger 1975, 7) Siehe dazu auch insgesamt Merleau-Ponty 1968.

[20] Vgl. C. Lévi-Strauss 1975, 48 und C. Lévi-Strauss 1985.

[21] Zur neueren Debatte zum Begriff einer „Würde der Kreatur“ vgl. K. P. Rippe 1994, G. M. Teutsch 1995, P. Saladin 1995, B. Sitter Liver 1996, A. Bondolfi et al. 1997,P. Balzer et al. 1999 sowie neuerdings die exzellente Dissertation von H. Baranzke 2002, die neben der ‚Dignitas-Tradition’ die weitgehend vergessene ‚Bonitas-Tradition’ wieder ins Bewusstsein ruft.