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Armin G. Wildfeuer
Armin G. Wildfeuer: Wege nach Utopia: Ein Glücksversprechen für die Neuzeit?, Vortrag im Rahmen des Thomas-Morus-Empfangs “500 Jahre Utopia – Wunschbilder für eine bessere Welt” am 22. Juni 2016, Thomas Morus Akademie/Bensberg
Publication year: 2016

An der Wende zur Neuzeit mit ihren zahlreichen gesellschaftlichen Umbrüchen war Mores „Utopia“ für viele Menschen ein echtes Heilsversprechen. Denn die Bürger der fiktiven Insel leben scheinbar im Glück: als Gleiche unter Gleichen, stets nach Bildung strebend, lehnen sie Privatbesitz gänzlich ab. Sah Morus im Staatswesen seiner Insel Utopia tatsächlich ein Ideal für seine zeitgenössische Welt? Und heute?

Vortrag: Prof. Dr. Armin G. Wildfeuer, Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Köln

Lesung aus dem Roman „Utopia“Wolfgang Rüter, Schauspieler, Mitglied im Ensemble des Theaters Bonn

Der Vortrag macht folgende These stark:

Der utopische Staat des Thomas Morus ist weder Wunsch- noch Furchtbild, weder Eutopie noch Dystopie. Er ist weder einfach das Gegen- noch das Vorbild für ein gelingendes Gemeinwesen, das das Glück seiner Bürger ermöglichen kann. Und die Utopia ist auch nicht bloß eine humanistische Satire. Auch isrt es nicht die Intention des Verfassers, die Insel Utopia als Vorbild zur praktischen Umsetzung zu empfehlen. Denn wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswunsch fast von selbst. Sie ist daher auch kein politisches Aktionsprogramm, auch wenn sie an einigen Stellen dem Charakter einer Reformschrift verdächtig nahekommt. Die Utopia enthält folglich auch kein Transformationskonzept, also eine Beschreibungen oder gar praktische Anweisungen für einen Übergang von der historischen zur utopischen Wirklichkeit.

Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift eindeutig: »Utopia« heißt Nirgendwo. Der Geltungsanspruch der Utopie versteht sich also nicht als Vorlage zur innerweltlichen Beseitigung aller Missstände. Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt. Gerade diese Konstruktion aber ist es letztlich, was die Utopia zur Utopie im ursprünglichen Wortsinn macht: Sie ist der voraussetzungsfreie Entwurf einer Gesellschaft ohne Vermittlungsinstanz, d.h. ohne eine Verwirklichungsdimension aufzeigen zu können und auch ohne diese aufzeigen zu wollen.

Und wenn man den Titel der Schrift etwas genauer unter die Lupe nimmt, dann lässt sich über die Realisierungsdimension der Utopie sogar noch mehr sagen: sie ist eine Mahnung davor, eine durch und durch glückliche Welt unter Bedingungen der Endlichkeit mit Hilfe alleine der endlichen Vernunft überhaupt für realisierbar zu halten. Eine Eutopie, mag sie vom Menschen noch so vernünftig und zweckmäßig erdacht werden können, ist nicht realisierbar, ja, dies kann auch gar nicht wünschenswert sein. Eine reale Eutopie bleibt immer eine Utopie, sie hat keinen Ort in dieser Welt und wird nie einen Ort in dieser Welt haben.

Anders gewendet: Das vollkommene irdische Glück der Menschen in einem politischen Gemeinwesen von der Konstruktionsleistung alleine der sich selbst überlassenen Vernunft zu erwarten – dies könnten wir vielleicht wünschen, aber vernünftigerweise gar nicht erhoffen. Es wäre angesichts der zu erwartenden Absurditäten eine Torheit sui generis.

Man könnte fast den Eindruck haben, die Utopia sei eine Fortsetzung und Ergänzung der Schrift „Laus Stultitiae“ (dem „Lob der Torheit“) des Erasmus von Rotterdam, die dieser 1509  während eines Aufenthalts in England bei seinem Freund Thomas Morus verfasst und diesem auch gewidmet hatte. Dies machte auch das besondere Interesse des Erasmus an der Utopia erklärlich. Erasmus sieht im „Lob der Torheit“ überall Dummheit am Werk: im Leben der Menschen, in der Politik, in der Kirche, in der Wissenschaft. Überall mangelt es an Vernunft und dennoch sind die Menschen glücklich. Das Närrische und die Dummheit scheinen sich sogar günstig und förderlich auf das Miteinander der Menschen auszuwirken. Denn wo die Dummheit auftritt, dort herrscht Freude und Frohmut, alle stehen in ihrer Schuld, denn sie hat ihre Gaben – auch ungefragt – immer großzügig verteilt an jedermann, so dass kein Mensch ohne ihre Gunst ein angenehmes Leben führen kann. Nur Torheit allein schafft Freiheit und Glück. Daher kann die Weltherrscherin Stultitia, die sich mit ihren Töchtern Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust die Welt untertan gemacht hat, auch sagen: „Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten, als um Befreiung von der Torheit.“

Wo Erasmus überall Dummheit am Werke sieht, dort waltet auf der Insel Utopia überall die Vernunft. Auch sie hat sich die Welt untertan gemacht. Die Töchter der Stultitia, Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust, sind erfolgreich bekämpft bzw. eingehegt. Doch macht das Regime der Vernunft wirklich glücklich? Verstrickt sie sich in ihrem Herrscherfuror und ihrer Radikalität nicht vielmehr in Absurditäten und Widersprüche? Täte den Menschen nicht gelegentlich auch etwas mehr Inkonsequenz, ja Dummheit gut, um wirklich glücklich genannt werden zu können? Dürfen wir also von der Herrschaft der Vernunft zumal dann, wenn sie sich primär utilitaristisch, zweckrational-instrumentell und kollektivistisch gebärdet, tatsächlich die Beendigung aller Glücklosigkeiten erhoffen? Oder brauchen wir gar eine andere Vernunft – eine im Kern moralisch-praktische, die den Primat gegenüber einer bloß theoretisch-instrumentellen Vernunft in Anspruch nimmt? Neuzeit und Moderne werden sich genau an dieser Frage abarbeiten.

Von ausgelassenen Freudenfesten auf Utopia berichtet Raphael jedenfalls nichts. Und zu einem „Lob der Vernunft“ kann sich der Morus der Utopia auch nicht entschließen. Denn das Ergebnis des Utopia-Experiments lautet: Vieles manchen die Utopier auf ihre Weise zwar besser als die europäischen Christen (es kommen unter dem Diktat reiner Vernunft vielleicht weniger Dummheiten vor), aber längst nicht alles – und manches gewinnt bisweilen höchst groteske Züge. Die Schrift könnte daher auch als „Kritik der Vernunft“ gelesen werden und zwar in dem Sinne, dass sie die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines bestimmten Typs von Vernunft deutlich offenlegt. Die zentrale Botschaft der Schrift, die auf die Neuzeit vorausweist, könnte dann lauten: Solange die Vernunft ihre Grenzen kennt und dabei ihre Voraussetzungen selbst reflektiert, solange ist sie ein ausgesprochen heilbringendes Vermögen. Versucht sie aber, sich selbst genug zu sein, sich als letzte und absolute Instanz zu inszenieren, mithin den Menschen und all seine Verhältnisse zu ihrem Sklaven zu machen, ohne gleichzeitig aucvh moralisch-praktische Vernunft zu sein, dann verwickelt sie sich zwangsläufige in Paradoxien und Antinomien und gebiert absurde Dilemmata.

Wir können uns zwar gerne mehr Vernunft und Vernünftigkeit in der realen Welt des politischen und sozialen wünschen, aber das vollkommene Glück, ja die Erlösung von irdischen Zwängen und die wahre Freiheit haben wir nicht von ihr, sondern von einer je höheren, nämlich moralisch-praktischen Vernunft (wie sie sich im Gewissen zeigt), und im Letzten von der Weisheit Gottes (wie sie sich in der Offenbarung zeigt) zu erhoffen. Ansonsten wäre die Vernunft – zumal für einen frommen Christen wie Thomas Morus – die größte aller Torheiten. Auch für diese Überzeugung ist Thomas Morus  1535 unter dem Beil gestorben. Denn: Um dieser höhere Vernunft und Glückseligkeit willen – und nur ihretwegen – lohnt es sich sogar, Kopf und Kragen zu riskieren.

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